Mein erster Quarter-Peal

Für Uneingeweihte mag das nach „mein erster Porsche“ oder „mein schönstes Ferienerlebnis“ klingen, doch regelmäßige Lesende der UKPOST ahnen sicher, es handelt sich wieder um das gute alte Glockenläuten im anglikanischen Stil.

Um besser zu werden und weil es interessant ist, läute ich, wo und so oft ich kann (sie mich lassen;-)). Seit einigen Monaten auch in der Kathedrale von Chester. Da der Turm der Kathedrale selbst nicht gerade baufällig ist, jedoch die beträchtlichen Vibrationen, die die tonnenschweren Glocken beim Läuten erzeugen, nicht mehr verträgt, gibt es außerhalb einen kleinen Turm, in dem die 12 Glocken der Kathedrale hängen. Dieser Turm ist aus den 70er Jahren, wie zu erwarten ist es also kein schöner Bau, sondern ein überdimensioniertes Vogelhäuschen aus Beton. Doch die Glocken sind gut in der Hand- (Seil-) habung. Der Turmkapitän nun, Paul mit Namen, fordert Leute gerne über ihre Grenzen hinaus und so wurde ich, die keine Ahnung von gar nichts hat, aufgefordert, einen Quarter-Peal (einen Viertel Geläut) mitzumachen. Das hat mich wirklich herausgefordert, so weit fühlte ich mich noch nicht in meiner Lernkurve. Doch was hat er eigentlich damit gemeint?

Zur Theorie

Glockenläuten funktioniert so: am Anfang steht die Runde. Also bei 6 Glocken 1, 2, 3, 4, 5, 6, die mit dem höchsten Ton fängt an, die tiefste schließt die Runde und anschließend geht wieder von vorne los. Eine Angelegenheit von ein paar Sekunden. Um Leben in die Sache zu bringen, gibt es „Kompositionen“, nur heißen die beim Läuten „Methoden“. Einzige Regel für die Methoden: eine Glocke kann ihre Position nur um eine Stelle pro Runde verändern, nicht 2 oder 3 Stellen auf einmal. D.h. nach 1,2,3,4,5,6 ist z.B. 1,3,2,5,4,6 möglich, nicht aber sofort 3,1,4,5,2,6. Um Letzteres zu erreichen bedarf es mehrerer Runden. Ist wie mit dem Rubiks Cube Dingens, den löst man auch nicht mit einem Dreh.

Diese Glocken-Methoden können sehr lange werden, wie viele Möglichkeiten es theoretisch gibt, zeigt mathematische Statistik. Denn es gibt keine Wiederholungen!!

Ausschnitt aus einer Läutekammer. Die Glocken befinden sich über der Decke, sind also unsichtbar. Wenn man im selben Raum wie die Glocken läuten würde, wäre man bald taub, das ist viel zu laut. Wie weiß man nun, wo die Mitspielenden mit ihren Glocken gerade sind? Indem man die Sallies beobachtet. Im Bild die gestreiften Puschel, das sind die Sallies, an denen zieht man, um die Glocke zu läuten. Wenn eine Glocke in einer Position vor einem ist, ist die Sally in dem Moment in paar Zentimeter weiter unten, den der/die Spielende hat etwas früher angefangen, daran zu ziehen. Schwierig zu erklären, ergibt aber Sinn.

In diesem Fall

Eine der grundlegenden Methoden, die man mit als erstes lernt, wenn man eine Glocke managen kann, wird mit 5 Glocken geläutet und heißt Bob Doubles. Man muss sich das wie eine Melodie vorstellen. Durch Variationen, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen (wir sind hier im Vergleich entweder bei Bachs Goldberg-Variationen oder im Jazz) kann diese Grundmelodie ins fast Unendliche verlängert werden. Die Variationen werden durch Rufe angekündigt. Das ist nur ein Wort (normalerweise „Bob“). Die Spieler wissen dann, wo sie gerade sind – hoffentlich – und wie sie sich deshalb weiters verhalten müssen.

Wenn man einen ganzen „Peal“ mit 5 Glocken erreichen will, dauert er 5040 Änderungen (in der Reihenfolge, in der die Glocken geläutet werden). Ein Viertel-Peal logischerweise 1260. Das dauert um die 40 Minuten! Also anstatt einer Sinfonie läutet man nur einen Satz einer Sinfonie.

Zwei Besonderheiten in dieser Methode: die Glocke Nr. 6 kann gerne mitläuten, hat aber keine Funktion als die, ständig an letzter Stelle je Runde zu erklingen. Es ist angenehmer, eine 6 dabeizuhaben, man kann sich an dem tiefen Ton ein bisschen orientieren. Sich an allen Tönen der Glocken zu orientieren, also audio, schaffen nur wirklich musikalische Leute.
Zweite Besonderheit und da kam ich ins Spiel: die Glocke Nr. 1 macht weniger komplizierte Dinge als 2,3,4,5. Sie tauscht ihre Stellung in der Runde immer in demselben Muster, egal was die anderen tun. Sie geht von Stelle Nr. 1 zu Nr. 2, zu Nr. 3, 4, 5, bleibt einen Schlag länger an fünfter Position (also „hinten“) und geht dann wieder nach vorne. So dass das Schlagmuster der 1 so aussieht: 1,1,2,3,4,5,5,4,3,2,1,1. Und wieder die 2 und so weiter, über 40 Minuten lang. Das kann man durch Zählen ganz gut hinkriegen. Zusätzlich hilft bei der Orientierung, dass man etwas langsamer läutet, wenn man „nach hinten“ geht, sich also überholen lässt, etwas schneller, wenn man da bleibt, wo man ist (die 1,1 und 5,5) und noch etwas schneller am Seil zieht, wenn man sich in der Reihenfolge wieder nach vorne drängelt.

Weiters hilft, wenn man weiß, welcher anderen Glocke, also 2,3,4 oder 5 man gerade in dem Moment für einen Schlag folgt. Das geht nach Augenschein, siehe Erklärung zur Sally oben, ist aber schwierig, denn hier kommen die Variationen ins Spiel: die Glocken 2-5 verändern ihre Reihenfolge ständig, sonst würde man nicht 1260 VERSCHIEDENE Variationen hinbekommen. Wenn man das ganze „Stück“ in- und auswendig kennt, weiß man, wie man sich verhalten muss. Um beim Bild der Musik zu bleiben, man könnte bei einem Stück sowohl die Geige als auch die Flöte spielen. Wenn man da unsicher ist und eigentlich nur die Triangel spielen kann, so wie ich, ist es hilfreich, wenn alle anderen Mitspielenden einen im Auge behalten und zunicken und zurufen, wenn es droht, unrund zu werden.

Das ist wie Souflieren und das wurde bei mir sehr viel gemacht, damit ich nicht zu nervös werde und einfach reingrätsche. Ich habe es versucht und war erfolgreich. 44 Minuten lang habe ich eine Glocke an der richtigen Stelle erklingen lassen. Ich wusste also, wo ich in der Reihenfolge jeweils war. Oft wusste ich zwar nicht, welcher Glocke ich gerade folgte, mein Gehirn hat diese Informationen nicht immer schnell genug verarbeitet. Wie beim Memory. Man denkt, die Kirschen liegen unter dieser Karte, doch das Kurzzeitgedächtnis trügt, die Kirschen befinden sich unter der Karte davor oder dahinter.

Alles klar? Wahrscheinlich nicht, doch es geht nicht ums Detail. Es geht mir darum, was alles so dahinter steckt, hinter dieser Kunstform. Es ist manchmal einfacher, es einfach zu tun als es zu erklären.

44 Minuten sind eine lange Zeit und wisst ihr was? Diese 44 Minuten waren eine schöne Zeit. Ich hatte dennoch nichts dagegen, als der Ruf erklang: That is all. (Das ist alles)