Endlich auch auf diesem Blog: Krankheitsgeschichten

Man kann nicht immer nur über großartige Dinge und Jupidu reden. Nicht nur aufgrund meines fortgeschrittenen Alters wird es hohe Zeit, über Gebrechlichkeit zu sprechen.
Halbwegs funktionstüchtig zu bleiben ist eine Daueranstrengung, der wir Menschen uns ausgesetzt sehen.

Kein Leben im Ausland ist komplett ohne Erwähnung des Gesundheitssystems vor Ort.

Die UK haben seit 1948 das NHS, das nationale Gesundheitssystem, in dem alle legalen Einwohnenden kostenlos (steuerfinanziert) versichert sind. Man bekommt dafür alles Notwendige bis zum Krankenhausaufenthalt, aber nichts bis wenig für Augen und Zahnarzt.

Das NHS pfeift ständig aus dem letzten Loch, ist totgesagt, die Wartezeiten bei den ÄrztInnen und für Ops sind horrend, die Leute sterben reihenweise in den Krankenhäusern, die Mitarbeitenden sind überfordert. Heißt es. Klingt das nicht schauerlich?

Die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hat das NHS als eines der schlechtesten Gesundheitssysteme eingestuft, die betrachtet wurden. Ich weiß nicht, welchen Teil der Welt sie bewertet haben, es können nur Länder der so genannten Ersten Welt gemeint sein. Ich möchte nicht wissen, wie das Gesundheitssystem von Togo aussieht …

Ein Gesundheitssystem ist eine gewaltige Aufgabe und sieht sich immer neuen Herausforderungen ausgesetzt. In den UK ist es einer der größten Arbeitgeber, 1,5 bis über 2 Millionen Beschäftigte, je nachdem wie man es betrachtet. Eine wachsende und alternde Bevölkerung gehört zu den größten Herausforderungen, aber nicht nur dies.

Es ist wahr, es kommt ein bisschen darauf an, wo man wohnt, ob man eine gute Versorgung hat. Dabei ist es nicht unbedingt wichtig, ob Stadt oder Land. Wales scheint Versorgungslücken zu haben, aber auch einige Ballungsgebiete. Auf jeden Fall ist das NHS ein ewiger politischer Zankknochen und jede Schlagzeile mit NHS drinne kann der Aufmerksamkeit einer sensationslüsternen Öffentlichkeit gewiss sein.

Es ist kein Zufall, dass Boris Johnson mit einem Bus für den Brexit geworben hat, auf dem die gelogene Zahl (voll gelogen, ey) stand, 350 Millionen Pfund würden die Briten jede Woche an die EU abdrücken (ohne Gegenleistung). Dieses Geld wollte er (und andere) in das NHS stecken und die, die es glauben wollten, fanden das ein gutes Argument. Es ist aber auch kein Zufall, dass buchstäblich Tage nach der Wahl keiner von den Politikern mit der größten Klappe auf Nachfrage etwas davon gewusst haben wollte, VERSPRECHEN abgegeben zu haben, doch das nebenbei. Vor einer Reform des NHS schrecken viele zurück.

Unserer guten Erfahrungen mit dem NHS (kaum Wartezeiten, freundliche Behandlung) zeigen zumindest ein Defizit auf: zu viel Schriftverkehr, wo auch E-Mails reichen würden und mangelnde Koordination. Da könnte man wirklich viel Geld sparen, man hört jedoch wenig davon, das wäre ja konstruktiv.

So viel zum Arztbesuch.

Wie erwähnt, bezahlt die NHS nicht: Sehen und Kauen. Seit Wochen wusste ich, eine meiner beiden Brücken ist locker. Was macht man in so einem Fall? Man hält still und hofft, es geht vorüber, obwohl man weiß, das funktioniert bei Zähnen NICHT. Als ein Brückenzahn dann anfing zu schmerzen, habe ich gleich die Fahne gestreckt und bin auf die Suche nach einer Praxis gegangen. In Tattenhall gibt es keine, doch umliegend drei. Die Internetseiten waren alle okay und einladend genug, so entschied ich mich nach dem Kriterium des Augenscheins. Klaus war vor Jahren bei einem Check-up in Malpas zufrieden gewesen, mir erschien der Rezeptionsbereich aber irgendwie, selbst für England, zu altmodisch und abgenudelt. Dagegen spielen wir ab und an Tennis mit einer Zahnärztin, die Teilzeit in Tarporley arbeitet. Sie macht einen modernen, zupackenden Eindruck, ich hoffte also, sie arbeitet in einer modernen, zupackenden Praxis.

Ich bekam dort am Tag meines Anrufs einen Termin bei einer Ärztin, die seit 10 Jahren approbiert ist. Perfekt: eine Frau mit Erfahrung, aber modernem Studium. Die Behandlung war effizient und freundlich. Auffällig war, dass ich erst das berühmte Lätzchen bekam, als an mir herumgesaugt wurde. Auch wurde der Wasserbecher erst gefüllt, als ich ihn wirklich brauchte.

Sinnvolle Kleinigkeiten, an der Behandlung selbst wurde nicht gespart.

Am Ende bezahlte ich 60 Pfund. 30 für die Notfallbehandlung, 30 für provisorische Brücke. Und für eine Dreiviertelstunde Zeit Ärztin und Assistentin inkl. Zahnröntgen.

Die echte Brücke wird natürlich deutlich teurer, doch im Vergleich mit meinen alten Rechnungen absolut im Rahmen von Zeit und Ort. Die Behandlung kostet ungefähr so viel wie in Deutschland.

Klaus kam vor Monaten mit seiner neuen Brille nur auf etwa ein Drittel der deutschen Kosten, da habe ich weniger Glück. Dennoch: ich habe seit Jahren keine Versicherung bezahlt, so werden es nun quasi ein paar Monatsbeiträge. Kann man nicht meckern.

Die Ballade vom alten Seemann

Einen leichten marinen Cocktail aus Gin, Grapefruit- und Zitronensaft aus mit Meersalz geränderten Gläsern trinkend, traf sich die Buchgruppe zum ersten Mal dieses Jahr, mit einem englischen Klassiker. Seit dem Weihnachtsessen, das einem anderen Klassiker, Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde gewidmet war (mit einem Absinth-Aperitiv), war nicht viel Zeit, deshalb lasen wir nur etwas kurzes, wenn auch ein langes seiner Art: ‚Die Ballade vom alten Seemann‘ von Samuel Taylor Coleridge, erste Fassung 1798.

Diese Ballade hat die englische Sprache nachhaltig beeinflusst, Schillers Balladen fallen einem als deutschsprachiges Pendant ein, diese sind aber etwas kürzer. Laut gelesen kommt man bei Seemann auf 30 bis 40 Minuten Lesezeit! Auf youtube kann man verschiedene Fassungen anhören, von Größen wie Richard Burton, Orson Welles oder Ian McKellen (der Shakespeare-Schauspieler, der Gandalf im Herrn der Ringe gibt). Eine gute Gelegenheit, die Originalstimmen dieser Herren zu hören.

Worum geht es?

Ein alter Seebär drängt sich einem Mann auf, der zu einer Hochzeit geladen war und gerade auf dem Weg dahin ist. Er erzählt seine Geschichte, ein unglaubliches Garn: auf einer Reise wird das Schiff ins antarktische Meer abgetrieben, die Aussichten sind nicht gut. Bis jeden Tag ein Albatross auftaucht. Seitdem gibt es gute Winde und flotte Fahrt.

Originalillustration von Gustave Doré: der Albatross macht seinen ersten Besuch.

Eines Tages jedoch, und das Gedicht erklärt nicht warum, erschießt der Seeman den Albatross. Einfach so, aus einer Laune heraus.

Zuerst applaudieren ihm seine Kameraden, doch von Stund an wendet sich das Blatt, es herrscht Flaute. Die Mannschaft verflucht nun den Seemann und zwingt ihn, den toten Albatross (das sind riesige Vögel) um den Hals zu tragen. Die Lage wird immer grimmiger, der berühmte Vers: Water, water, everywhere, nor a drop to drink (Wasser, Wasser, überall, doch kein Tropfen zum Drinken) ist zu lesen. Es erscheint ein Geisterschiff, auf dem der Tod um die Seelen würfelt. Er erhält alle bis auf den Seemann, den ein schlimmeres Schicksal ereilt: er muss mit seiner Tat weiterleben. Er kann nicht beten und nicht sterben, bis er seine Tat annimmt und, eine Art ökologische Frühgeburt, das Meer mit seinen Kreaturen, die er vorher nur als böse und schleimig angesehen hatte, mit neuen Augen sieht.

Der Fluch ist gebrochen, der Albatross fällt von ihm ab und nun helfen ihm die Seelen seiner toten Kameraden, zurück in die Heimat zu kommen. Seitdem erzählt er allen, die es nicht hören wollen, seine Geschichte.

Der Hochzeitsgast ist, gegen seinen Willen, sehr gefesselt von der Erzählung und rechnet damit, am nächsten Tag als weiserer Mann aufzuwachen.

Der Albatross

Albatrosse sind Seevögel mit meterweiter Flügelspanne, wunderschön und in der Realität durchaus nicht nur mit Aberglauben behaftet. Einerseits sollten die Seelen toter Seeleute in ihnen wohnen, andererseits wurden sie im Zweifelsfalle ohne Weiteres verzehrt. Dass es Unglück bringe, einen Albatross zu töten, wird also nicht immer angenommen.

Schwarzbrauenalbatross

Galapagos-Albatrosse
Die Wirkungsgeschichte

Das Gedicht wurde seinerzeit wegen der bereits antiquierten Sprache kritisiert, doch gewann es bleibende Popularität. Es wird viel zitiert und parodiert und ein Albatross um den Hals, da wissen alle, ob sie das Gedicht kennen oder nicht, dass damit Unglück gemeint ist.

Das Gedicht gilt als Geburtsstunde der britischen Romantik.

Heimat

gesucht, geschmäht, benutzt. Ein paar Gedanken.

Wenn man mal woanders lebt, also z.B. im Ausland, neigt man dazu vieles in Frage zu stellen. Ist die neue Gesellschaft, besser, schlechter oder nur anders als die verlassene? Von außen werden Fragen herangetragen – neugierige oder misstrauische. Warum habt ihr uns verlassen oder warum seid ihr hierher gekommen?

Das berührt einiges, auch den Begriff Heimat. Wo ist man daheim? Dahoam is dahoam, also Straße und Hausnummer, oder?
Heimat ist ein Ort.

Es ist modisch geworden, nach der Heimat zu fragen. Meist geht es dabei um Heimatgefühle, also Emotionen, das Herz, ein bisschen diffus vielleicht, aber sooo wichtig.

Das war nicht immer so. Heimat bedeutete nüchtern so etwas wie ein Aufenthaltsrecht, oft geknüpft an einen mindestens minimalen Besitz, der eben Rechte wie den Aufenthalt mit sich brachte. Zum gefühlten Ort oder zu einer Sehnsucht nach der Welt von Gestern wurde Heimat erst später, als mehr Raum war für einen Platz in der Heimat – vielleicht sogar erst mit Gründung des Deutschen Reichs.
Heimat ist ein Daseinsrecht.

Die deutsche Sprache hat mit der Heimat, einem Inhalt, der kaum übersetzt werden kann, etwas eigenes geschaffen, etwas außer-patriotisches, was politisch genutzt oder beschmutzt werden kann, jedoch nicht mit einem Land oder politischen System verbunden sein muss.

Dazu wird Heimat immer auch in Kultur verortet oder in einer Sprache – meist der Muttersprache.
Heimat ist Wohlfühlen.

Jemandem, der keine Heimat hat, oder dem eine Heimat zu haben, abgesprochen wird, wird mit Misstrauen begegnet. Wenn man Glück hat, mit Mitleid. Vor allem, wenn man davon ausgeht, dass man Heimat nicht erwerben kann, dass man quasi in sie hineinwachsen muss und wenn das nicht passiert ist, kann man das nie wieder nachholen.
Heimat ist Dazugehören.

Oft ist Heimat etwas Positives bis ins zuckrig, klebrig Gehende. Man hat keine schlechte Heimat, das gibt es nicht. Ist keine gute Bindung an was auch immer vorhanden, hat man keine Heimat, man ist heimatlos. Klingt fast so traurig wie Waisenkind.
Heimat ist positiv.

Zur Heimat gibt es viele Definitionen und persönliche Antworten. Sie gehört in den Kreis um die persönliche Identität und zu jeder Nationalismusdebatte.

Multiple Heimaten

Die Frage, ob man mehr als eine Heimat gleichzeitig benennen könne und ob das überhaupt möglich sei, wird selten gestellt und wenn dann meistens verneint. Wie kann so etwas Spezielles, Kostbares, dieses Bauchgefühl, mehrfach vorhanden sein? Ist es nicht auch eine Verpflichtung? Schwingt hier der vaterlandslose Geselle mit hinein, der von den Konservativen den Linken vorgeworfen wurde, als würde diese Beleidigung den politischen Gegner für eine Debatte auf Augenhöhe abqualifizieren?
Heimat ist eine Waffe.

Zeit für Neues, oder: das 21. Jahrhundert sollte mal für was gut sein.

Manchmal hat sogar im Herz eines Menschen mehr Platz als man meinen möchte. Meiner Erfahrung nach kann man eindeutig mehrere Heimaten haben, man muss sie sich halt manchmal erarbeiten. Im konkreten Fall bietet sich Freilassing mehrfach als Heimat an, da drei Kritereien zutreffen. a) 20 prägende Jahre an einem Ort machen ihn vertraut (gezähmt, würde der kleine Prinz bzw. der Fuchs sagen). b) dort gab und gibt es Familie c) enorm wichtig: verstanden werden durch Dialekt und auch ohne Worte.

Bonn, Köln, Münster, Ulm, sie alle hatten die Chance, sich als Heimat, zumindest als vorübergehende, zu bewerben bzw. mich auszuspucken. Letzteres hat kein Ort getan, manche waren sperriger als andere, doch man muss auch beitragen, dann wird’s schon was.

Tattenhall dagegen befindet sich in einem anderen Land. Für viele Leute wird der Gedanke dann schon schwieriger. Kann es Heimat sein? Will es Heimat sein? Und wenn ja, wie viele?

Kürzlich, bevor wir über Weihnachten nach Deutschland geflogen sind, hat mich ein Bekannter gefragt, ob ich mich auf ‚home’ freuen würde. Ich habe ihm geantwortet, dass ja, aber auch hier wäre ‚home’. Er war überrascht. Ich sagte, ich hätte hier bereits viele Erinnerungen (also gelebte Erfahrungen). Der Gedanke schien ihm neu. Es könnte seinen Horizont erweitern, immer hat er zwei erwachsene Kinder in Australien verheiratet …

Heimat ist, was man daraus macht. Auf geht’s.