Kents Biere. Und Marx in London.

Kent rühmt sich, die älteste kontinuierlich brauende Brauerei Großbritanniens zu beherbergen. Shepherd Neame heißt sie und braut offiziell (und inoffiziell mindestens 100 Jahre länger) seit 1698. Beeindruckend, wenn auch nicht ganz so lange wie das Salzburger Stieglbräu von 1492. Weihenstephan geht sogar auf 1050 zurück, doch die sind so oft abgebrannt, durch normale Brände und im Zuge von Eroberungen, ich nehme nicht an, dass sie jedes Jahr brauen konnten.

Also 1698 und immer noch ein Familienunternehmen. Um die Ecke wird Hopfen angebaut, das örtliche Wasser hat einen idealen Brau-pH Wert von 7,2 und kommt direkt ins Haus, aus einem artesischen Brunnen unterhalb des Brauerei. Aufgrund eines alten Vertrages mit einem König sogar kostenlos. Perfekte Bedingungen für ein erfolgreiches Geschäft.

Die Führerin erklärt, wie die Mälzung der Gerste das Aroma beeinflusst, von fast roh bis zu schwarz gebrannter Schokoladengerste, die wirklich wie Schoko-Reis-Crispies aussieht. Genauso wichtig ist die Wahl der Hopfensorte (ja, es gibt viele) und der Hefestrang, den jede Brauerei jahrzehnte- bis jahrhundertelang eifersüchtig hütet und über den typischen Geschmack mitentscheidet. Die Literzahlen der Behältnisse gehen immer in die Hunderttausende, dennoch ist die Anlage sehr kompakt und übersichtlich.

Man braut auch -in Kooperation- das bekannte thailändische Singhabier für den europäischen Markt und hier wird es interessant. Um den originalen Geschmack hinzubekommen, liefert Thailand deren Hefestrang und das Malz. Das Wasser ! wird angepasst, damit das Bier wie in Thailand schmecken kann. Ein Eigenexperiment könnte das werden, wenn man im Urlaub in Thailand gewesen ist, und nun in England Singhabier trinkt.

Und es gibt wirklich Biere mit drei Sorten Hopfen drin, das wirkt schon wie ein Designerbier. Ich würde sagen: das ist ein Designerbier.

All diese Dinge zeigen, es steckt nicht mehr in diesen Bieren als vier Zutaten, aber diese Zutaten haben feinste Nuancen. Nimmt man dazu Brautemperaturen und Einweichzeiten, versteht man, warum Biere (angeblich, ich mag Bier nicht wirklich) so unterschiedlich schmecken und es immer wieder neue geben kann.

Auch für die Bieramateurin ist die Probestunde ein (hicks!) Erlebnis.

Modernes Glasfenster im Brauhaus. Es geht auf ein Dach hinaus, kann also nur gesehen werden, wenn man sich im Gebäude befindet. Es zeigt Bierproduktion gestern und heute.

Das zweite Fenster zeigt Hopfenanbau gestern und heute. Man beachte den Stelzengänger rechts oben, er schnitt die höchsten Reben. Mehr zu dem Gebäude in der Mitte folgt weiter unten.

Hopfen kam relativ spät nach England, im 15. Jahrhundert, vorher wurden andere Geschmacksträger den Bieren zugesetzt. Der Empfang dieser “ausländischen Mode” war gemischt, man war damals schon misstrauisch dem Fremden gegenüber. Hopfen setzte sich jedoch durch, man begann ihn zu lieben, und selbst als Heinrich VIII es einige Jahrzehnte lang verbieten ließ (immer Heinrich VIII, er liebte Verbote), war der Hopfenanbau nicht zu unterbinden und schon wenig später wurde Hopfenbier als urenglisch gefeiert.

Kent hat zur Hopfentrockung eine eigene Art von Gebäude entwickelt. Das Ziel ist immer, von ca. 80 Prozent Feuchtigkeit auf 8-10 Prozent herunterzukommen, sonst ist er nicht lagerbar.

Eines der alten Hopfentrockenhäuser. Viele dienen nun als Wohnhäuser, glücklicherweise wurden dadurch etliche dieser einmaligen Gebäude erhalten. Sie heißen Oasts, ein sehr altes Wort, das ursprünglich von dem lateinischen Wort Aedes für Herd stammen soll – ein Ofen also.
Sie funktionierten mit Durchzug. Unten gab es eine Öffnung nach außen und das Feuer. In der Mitte der Hopfen. Die Kamine konnten gedreht werden, so dass seitliche Öffnungen immer ideal zum Wind standen, um eine optimale Trocknung zu ermöglichen.

London – ein Friedhofsbesuch

Und noch eine Führung, auf dem Heimweg. Es tut gut, in London jede verfügbare Stunde zu nutzen, um interessante Dinge zu erfahren. Dieses Mal geht ein lang gehegter Wunsch, Highgate Cemetary, einen der berühmten viktorianischen Friedhöfe, zu besuchen, in Erfüllung. Einer der heute berühmtesten Ruhenden dort ist Marx, aber deswegen bin ich nicht gekommen.

Man kommt aber nicht um ihn herum, er liegt an einem Hauptweg und sein Kopf ist absurd groß. Das ist nicht Karls Schuld, sein Familiengrab bestand nur aus einer schlichten Grabplatte. In den 50iger Jahren sammelte die kommunistische Partei Englands Geld, um ihn umzubetten, und gleich neben dem alten Grab mit dieser Monstrosität erneut zu bestatten.

Highgate Friedhof selbst entstand im Zuge der Bevölkerungsexplosion Londons vom 18. Jahrhundert an. Die kirchlichen Friedhöfe waren so überlastet, dass Tote dort umstandslos übereinander und nur kurz unter der Oberfläche bestattet wurden, es war unwürdig, extrem ungesund für die Lebenden und dazu gefährlich – Leichendiebstahl war eine echte Gefahr, denn die aufstrebende ärztliche Kunst hatte nicht genügend legale Leichname, meist Sträflinge, zur Verfügung, um den Hunger nach Wissen über den menschlichen Körper zu befriedigen.
Normale Menschen wollten jedoch nicht zerlegt werden, die meisten glaubten an eine Auferstehung des Fleisches (auch wenn sie wussten, dass sich Körper zersetzen … Menschen sind nicht konsequent). Der Gedanke, an Auferstehung gehindert zu werden, bot neuen Friedhöfen eine Chance. Sie worben mit hohen Mauern und Tag- und Nachtwächtern, die Leichendiebstahl unterbinden sollten. Die sieben in dieser Zeit am Rande Londons entstandenen Friedhöfe waren sehr erfolgreich und verkauften Grabstätten wie warme Semmeln.

Die Bäume haben sich größtenteils selbst ausgesät. Ursprünglich war der Friedhof ein offenes Gelände, das einen freien Blick über London ermöglichte. Highgate Hill, wo wir uns befinden, ist wirklich die “Anhöhe vom Hochtor”. Die meisten Grabsteine waren blendend Weiß, doch verwittern sehr schnell. Umweltverschmutzung und ein Waldklima sorgen dafür.

Berühmte Menschen heute sind nicht immer berühmte Menschen von gestern. Grab Nummer 1 z.B. beherbergt einen stadtbekannten Fuhrmann, eine Persönlichkeit, der Tausende Menschen aus allen gesellschaftlichen Ständen die letzte Ehre erwiesen.

Da der Friedhof ein Unternehmen war und nicht kirchlich (wenn auch ein Teil gesegnet wurde), machte er pleite. Denn es hatte die Grabstellen auf Ewigkeit verkauft. Als alle verkauft waren, gab es zu wenige Einnahmen. Highgate verwilderte nach dem Krieg und wurde Zeuge gruseliger Szenen. Es gab Graböffnungen bis zur Leichenschändung, Seancen wurden abgehalten (es gab Gerüchte über einen Vampir von Highgate) und die Drogenszene war vor Ort. Der Gemeinderat wollte das Land verkaufen und die Gräber irgendwie stapeln – in England ist es nicht einfach, die Erlaubnis zu bekommen, einen Friedhof zu zerstören. Erwartungsgemäß regte sich erst zu dieser letzten Stunde Widerstand der örtlichen Bevölkerung, in den 70ern wurde ein Verein gegründet und heute ist der Friedhof nicht nur ein lebendiges Denkmal von Grabkultur, sondern immer noch ein aktiver Begräbnisplatz. Da man sich selbst finanziert, kostet er Eintritt, das ist natürlich ungewöhnlich, aber jeden Penny wert.

Die ägyptische Avenue mit Sargnischen (Wikipedia)
In den Katakomben. Sargnischen, die Opfer des früheren Vandalismus wurden, wurden so konserviert wie sie vorgefunden wurden.
Highgate Hill. Nur im Dunst unten erahnt man den Rest Londons. Aber wenigstens sieht man einen roten Doppeldeckerbus.

Einige Fakten über: Kent

(Die besseren Bilder sind von Freundin R, die anderen von mir oder aus Wikipedia)

Der Südosten – das ist, wohin London überquillt oder in die Ferien fährt, ein fruchtbarer Landstrich nahe dem Kontinent, das Transitland für alle Hauptstadtgäste.

Erster Eindruck: saubere Züge, saubere Häuser, Obstgehölze in Reih und Glied. Schlammig, denn auch der Südosten bekommt von diesem waschelnassen Winter reichlich ab. Wenn die Bäume blühen, wird es wolkig weiß und rosa werden, noch muss man sich mit Narzissen, Frühlingsknotenblumen und Palmkätzchen begnügen. Ein Käuzchen ruft im angrenzenden Wald, das Café am Bahnhof hat üppige Kuchen und im Ladenteil gibt es nicht nur die Milch für Vergessliche, sondern Delikatessen. Die Menschen sind wohlhabend, hoffentlich werden die Saisonhelfer:innen auch entsprechend ordentlich bezahlt.

Ende Gelände

Der Zug bringt nach Dover. Eine Stadt, die man vom Fährhafen aus kennt, meist bei Nacht, wenn kümmert es, wie es dort aussieht, man will ja weiter, weiter. Die Fähren fahren nicht mehr nach Oostende, aber überall sonst hin. Auch an einem trüben Wintersonntag fährt Fähre nach Fähre das Hafenbecken an. Keine Staus heute, kein Hickhack mit der EU. Der Hafen von Calais liegt nur 33 km entfernt. Bei gutem Wetter kann man nicht nur von diesem Punkt der Küste aus den Kontinent sehen und umgekehrt die berühmten Klippen von Dover. Heute ist das Wetter nicht gut genug.

Hier beginnen die berühmten Weißen Klippen von Dover.

Mord in der Kathedrale

Im Südosten Englands kommt man an Canterbury nicht vorbei, dem Schauplatz eines der berühmtesten Verbrechen des Mittelalters. Heinrich II soll dem Sinn nach gesagt haben: “Wer befreit mich von diesem nervigen Mönch?” Gemeint war Thomas Beckett, ehemaliger Lordkanzler, Freund von Heinrich II und später Erzbischof von Canterbury, der, fromm geworden, andere realpolitische Ansichten vertrat als Heinrich. Wie so oft ging es um Machtansprüche des Staates gegenüber der Kirche und umgekehrt.
Vier Ritter haben Heinrich beim Wort genommen, sind nach Canterbury geritten, ermordeten Thomas IN der Kirche auf üble Weise und machten sich dann dünne. So ganz geheuer war ihnen wohl nicht. Heinrich wollte es nicht so gemeint haben, doch es war zu spät: der Erzbischof war tot und das Volk fing unmittelbar an, Thomas zu verehren, gleich 3 Jahre später wurde er heilig gesprochen, ein Kult setzte ein. Der hält bis heute in gewisser Weise an. Nicht einmal Heinrich VIII, der weder Katholiken noch Heilige mochte und schon gar nicht, dass jemand anders als er Boss-Boss war. Er verbot Thomas und seinen Kult explizit, ließ seinen Namen aus Büchern löschen, konnte seine Verehrung aber nicht ausrotten.
Die vier Ritter wagten sich aus ihren Burgen heraus, reisten nach Rom, um vom Papst von ihrer Schuld befreit zu werden. Es funktionierte: der Papst legte ihnen als Sühne “lediglich” auf, 14 Jahre auf Kreuzzüge zu gehen. Ob einer von ihnen diesen gefährlichen Job überlebte, ist ungewiss.
Das Mittelalter war wirklich ANDERS.

Starker Auftritt: Eingangstor zur Domfreiheit

Canterbury wird von der superben Kathedrale geprägt (Wikipedia).

Canterbury hat eine geologische Besonderheit: der Fluss Stour war zur Römerzeit noch kein Fluss, sondern Wantsum Kanal, der die Insel Thanet vom Rest des Landes trennte. Thanet war bis ins Mittelalter hinein ein sehr wichtiges Handelsgebiet, mit zahlreichen bedeutenden Häfen, die heutzutage Badeorte oder im Inland gelegene kleine Flecken sind. Der Kanal verlandete auf natürliche Weise. Im Laufe weniger Jahrhunderte änderte sich das Gesicht und die Bedeutung ganzer Landschaften.

Tunnelblick

Ramsgate ist die kleinere Schwester von Margate, dem berühmteren Badeort. Seit 10 Jahren hat es jedoch eine wirklich interessante Attraktion, die Schutztunnel. Ende der 30iger Jahre entschloss man sich in Ramsgate, auf Nummer Sicher zu gehen und einen Krieg mit Deutschland zu erwarten. Man war sich darüber im Klaren, dass die Orte auf dem Weg nach London besonders stark bedroht sein würden. Es gab bereits Tunnel, der weiche Kalkstein bietet sich zum Graben an, es gab eine touristische Eisenbahn, die Menschen von der Küste auf die Hochebene und weiter beförderte. Daran wurde angeknüpft und in weniger als einem Jahr wurden 5,2 km Tunnel für die Bevölkerung gegraben. Das ging nur, weil das Gestein sehr weich ist und man pausenlos in zwei 12-Stundenschichten gegraben hat.

Leider stellte sich heraus, die Vorsichtsmaßnahme war eine gute Investition. Ab August 1940 waren die Tunnel pausenlos im Einsatz. Da so viele feindliche Geschwader überflogen, lebten Teile der Bevölkerung praktisch in den Tunneln. Wer ausgebombt war, erhielt einen Bezugsschein für einen Platz im Stockwerkbett, es wurden Mahlzeiten in einer Kantine gekocht, damit niemand mit Feuer hantieren musste, es gab Chemietoiletten und strenge Regeln, um die erzwungene Zeit auf engem Raum gut durchzustehen.
Durch die bogenförmig angelegte Form der Tunnel war oberirdisch niemand mehr als 5 Minuten von einem Eingang entfernt. Diese Eingänge führten jeweils um 2 rechtwinklige Kurven, um Druckwellen unschädlich zu machen, die Tunnel waren tief genug, um Bomben von der Oberfläche wirkungslos verpuffen zu lassen. Wirkungslos nicht an der Oberfläche, viele Menschen verloren ihre Häuser. Doch weit weniger als 100 Menschen starben im Krieg in Ramsgate, niemand in den Tunneln, es war eine einmalig effektive Lebensrettungsmaßnahme.


Ramsgate an einem Wintertag – nach den Tunneln kam die Sonne.