Nicht repräsentativ

… und doch interessant: Eindrücke einer Haussuche in Plymouth.

Wohnungssuche ist wie Purzelbäume machen: man geht mit dem Kopf Richtung Boden und -bei aller Körperkontrolle- muss man ab einem gewissen Punkt einfach loslassen und rollen. Die Welt dreht sich für einen Augenblick und kommt wieder zur Ruhe. Man steht wieder auf, sieht sich um und schätzt ein, wie weit man gekommen ist.

Wir haben noch nicht eingeschätzt, doch mehr als einen Purzelbaum dieses Wochenende geschlagen.

Spät?

Haussuche ist ein schnelllebiges Geschäft. Dennoch war der Vorlauf spät bemessen, erst am Dienstag Termine für den Samstag, vermutlich dem Hauptbesichtigungstag für Wohnungen, auszumachen. Ein Makler war sogar schon voll belegt. Da unsere Vorauswahl viel zu groß war für nur einen Besichtigungstag und wir im Vorfeld kein absolutes Lieblingshaus identifiziert hatten, war das nicht tragisch. Unser Ansatz lautete, eine gewisse Bandbreite an Preis, Wohnviertel und Typ abzudecken. Das ist uns relativ gut gelungen. Von Neubau bis mindestens 130 Jahre alt, von Wohnung bis zum Vierzimmerhaus war alles dabei.

Generalstabsmäßige Planung ist Pflicht, schließlich müssen wir für eine Besichtigung 260 Meilen (um die 420km) überwinden. Da lohnt es, nicht wegen jedes Hauses einzeln zu fahren;-)

Dieser Februar spielt uns in die Hände, der Vorfrühling gibt Schwung in die Beine, denn braucht man auch. Am Ende haben wir 4 Häuser und 2 Wohnungen besichtigt. Wir haben drei Makler kennen gelernt, einer davon Britisch, einer Portugiese mit englischer Ehefrau und eine Russin, die schon als Kind nach England kam.
Für eine Besichtigung ist nicht viel Zeit vonnöten, 10-15 Minuten reichen aus, doch muss man von A nach B kommen, die Adresse finden und das Ganze verdauen. Am Abend weiß man, was man gemacht hat.

Was haben wir gesehen? Plymouth ist sehr dicht und kleinteilig bebaut. Das englische “Reihenhaus” überwiegt. Reihenhaus steht in Anführungszeichen, denn oft besteht eine Einheit nicht wie in Deutschland aus 4-8 Häusern, sondern umfasst eine ganze Straße. Das ergibt schnell mal 10-20 und mehr einstöckige Häuser, die aneinandergeklebt sind. Der generelle Eindruck der Stadt vermittelt dadurch die Größe von Bonn, obwohl Bonn weitaus mehr Einwohnende hat. Gewiss, in Bonn sind beide Seiten des Rheins bewohnt, das streckt das Weichbild einer Stadt. Hier verhindert das Meer eine doppelseitige Besiedelung.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals liegt zwar das bewohnbare Gebiet Frankreich, doch setzt sich Plymouth dort natürlich nicht fort. Obwohl Nordfrankreich, historisch gesehen, schon des Öfteren zur englischen Krone gehört hat und umgekehrt Franzosen, Niederländer und Deutsche auf dem Londoner Thron gesessen haben. Zu Doppelstädten, hüben und drüben des Kanals ist es nie gekommen, dazu ist er viel zu breit.

Ins Detail

Unser erstes Haus liegt am Hang, die Geographie der Stadt ist bergig. Leider am “falschen” Hang, landeinwärts, Seeblick kann man keinen erwarten, doch die Steile der Straße lässt ein gewisses San Franzisko Gefühl hochkommen. Das Haus liegt in einer einfachen Gegend, doch nicht unfreundlich.

Im Vordergrund auf dem Mäuerchen der so wichtige Notizblock, damit man mit den Häusern nicht durcheinander kommt.

Innen überrascht das Haus durch gute Proportionen, neue Teppichböden, ein modernes Bad. Doch die Küche ist alt und schäbig. Das enttäuscht. Der Herd ist noch älter als meiner oder zumindest genau so billig. Mhm.

Weiter zum nächsten Haus, es ist eines, das der Makler uns spontan zeigt, nachdem er uns gefragt hat, wonach wir generell suchen.

Es ist sehr geräumig, viktorianisch (also aus der Regierungszeit Viktorias 1837-1901). Da es weiter im Inland liegt, hatten wir es nicht auf dem Schirm, wir haben mehr in Seenähe gesucht. Es liegt wie das erste Haus in einer Häuserzeile und nur eine Querstraße von einer Hauptverkehrsader entfernt. Doch man hört diese Straße praktisch nicht, das ist erstaunlich. Und nur ein paar Meter entfernt liegt der größe Park der Stadt. Überhaupt: Plymouth ist eine grüne Stadt, überall gibt es Grünflächen in anständiger Größe. Das Haus ist nicht billig, doch die Küche ist modern und gut, die Zimmer sehr gut. Hier ist das Bad sehr einfach, mit einem meiner Ausschlusskriterien, wenn nicht alles andere einfach superfantastisch sein sollte: Dusche ist elektrisch. Warum man sich nicht die Mühe machen kann, wenn man -nachträglich- eine Dusche über der Badewanne einbaut, diese an die Gaszentralversorgung anzuschließen, ist mir ein Rätsel. Ist doch nur ein Meter Anschluss bis zum Badewannenhahn. Und doch nicht selten, wie man wir am übernächsten Haus feststellen werden. Die Toilette ist separat, das ist gut, doch hat kein Waschbecken, was soll das Ganze dann? Dafür ist das Haus eigentlich zu teuer. Mhm.

Neuer Makler, neue Gegend

Es wird schick! Zweizimmerwohnung in fast Neubau und, wenn man auf dem Balkon nach links hinaussieht, mit kleinem Meerblick.

Fußbodenheizung, zwei Bäder, großer Balkon nach Westen … das ist schon was zum Schwärmen. Plymouth hat nicht erst seit Francis Drake (Weltumsegler, Pirat, Vizeadmiral, Armada besiegt, operierte aus Plymouth heraus) einen Marineschwerpunkt. Auch heute gibt es noch Kompagnien?, Legionen?, Heere? in Kasernen und Kadettenausbildungsstätten und alles Mögliche. Doch Teile der alten Matrosen, Offiziers etc. Viertel werden heute zivil genutzt, Baulücken mit modernen Neubauten geschlossen. So auch hier. Leewardhaus liegt auf einer Anhöhe und blickt direkt auf eine alte Häuserzeile auf einer Seite, auf der anderen hinunter auf die Bucht von Plymouth mit Werften und Jachthäfen. Nicht ganz billig und eine gewisse Gefahr, dass man NachbarInnen hat, die die Nase etwas höher tragen, doch die meisten Leute ja doch nett, wenn man nett zu ihnen ist …

Die Bilder sind aus der offiziellen Hauswerbung. Hinter dem Haus (erstes Bild) geht es nach unten in den Hafen. Links vom Haus, wieder erstes Bild, befindet sich ein Cricketplatz. Zweites Bild zeigt eine von den genannten alten Häuserzeilen des Viertels.

Auf modern folgt die Moderne der Nachkriegszeit. Diese Häuser waren vor 40-50 Jahren DAS wohnbauliche Ereignis in einem Land mit viel alter Bebauung. Obwohl, auch in Deutschland wollte man eckig und entrümpelt und bequem anstatt alt, unpraktisch und zugig …

Gleich gesagt: Haus zu groß und im Erdgeschoss stank es (fiel vor allem mir sofort auf, setzte sich richtig fest in der Nase). Es gab einen angeblich behobenen Wasserschaden, doch das allein erklärte das nicht, ein ganz merkwürdiger Geruch. Doch: Riesenhaus, hell und sonnig, Blick bis in die Bucht hinunter, großer Park in der Nähe, doch elektische Dusche. Mhm.

Endspurt

Wem jetzt schon der Kopf schwirrt, möge sich vorstellen, wie es erst uns ergangen ist. Eindrücke, Eindrücke. Und noch zwei Objekte. Das erste ist weit im Hinterland, in einem aus einem Guss erbauten Viertel. Unglaublich, wie viele Häuschen man auf ein völlig unebenes Geländeprofil bringt, doch es ist hier gut gelungen. Kleines, doch ausreichendes Haus mit guter Küche, gutem Bad, neuen Teppichen, in Kürze: einfach alles gepflegt und die Details sind durchdacht (z.B. doppelte Tür auf der Wetterseite). Auf der Minusseite: weit weg vom Zentrum und vom Meer und eher eine Familiengegend. Und Klaus gefielen die teilweise bunten Tapeten nicht. Und man hörte eine Hauptstraße aus dem Tal rauschen. Irgendwas ist immer!

Bevor es zur letzten Wohnung geht (mit zwei Balkonen nach Westen), ein Wort zu den Gärten: zwei der vier Häuser hatten privaten Raum vor und hinter dem Haus, alle vier Häuser hatten Raum nach Süden, Osten oder Westen, nicht nach Norden. Keines hatte einen Garten im engeren Sinn. Alle Mietobjekte hatten Terrasse/Pflasterung/Holzdeck. Kein bis kaum Gras. Muss ja nicht sein, doch es fiel auf: jeder Draußenraum war schäbig. Billige Platten, rissiger Beton, halbtote Pflanzen, wenn überhaupt. Nichts, was man mit wenig Geld und Zeit nicht in einen mediterranen Traumraum verwandeln könnte, eine Ladung nette Pötte können Wunder bewirken, dennoch sehr auffällig. Mietende in Plymouth erwarten und wollen wohl nicht viel Garten. Potenzial wäre vorhanden: in Privatgärten sieht man hier Palmen, dicke Palmfarne … richtig südliche Bepflanzung, die sich offenbar sehr wohl fühlt.

Zum Letzten:

Auf ein Letztes, auch wenn uns das Navi in die Irre führt: es besteht darauf, dass unser eingegebener Postcode mitten im Hafenbecken liegt. Trotz leerer werdenden Handys schaffe ich es noch, uns von der Maklerfirma zum Wohnblock leiten zu lassen. War die erste Wohnung auf der Anhöhe über uns, befinden wir uns nun am Fährhafen, wieder mit gemischt alter und neuer Bebauung, auch hier mit militärischer Geschichte. Wohnung ist klasse, ein alter Wasserschaden an der Decke, angeblich ist das Leck vom Oberbalkon repariert … Ein schöner Abschluss, doch es ist nur eine Wohnung.

Erst mal sacken lassen.

Unterwegs in Sachen Kultur

Die Theaterkritik des Tages kommt von Klaus:

Ich hatte mir Theaterkarten gekauft. Bertolt Brecht, „Mutter Courage und ihre Kinder“. Ich hatte das Stück bereits zweimal in Deutschland gesehen, zuletzt sogar beim Brecht-Ensemble in Berlin. Diesmal sollte es in Manchester aufgeführt werden. Vorgestern (11. Februar 2019) war es soweit. Ich fahre mit dem Zug. Der Blick bei der Einfahrt nach Manchester fällt auf eine Masse von Kränen. Aha, hier bau-boomt es. Es boomt auch in der Innenstadt. Die Medien beschwören das Ende der High Street. (Gemeint ist, dass in Großbritannien viele traditionsreiche Innenstadtläden, Kaufhäuser usw. straucheln, teilweise schließen müssen.) Davon ist in Manchester nichts zu sehen, nichts zu spüren. Es pulsiert. Hier ist man nicht arm. Doch halt. Es pulsiert eben an der Armut vorbei. Sie sitzt am Straßenrand, vor sich einen Plastikbecher mit ein paar Münzen drin, später am Tag dann in einen Schlafsack eingerollt, vor einem Schaufenster liegend. Die Stadt hat ihr ein Denkmal gesetzt: eine Skulptur auf dem Bürgersteig einer Straße, die einen Obdachlosen im Schlafsack auf einer Bank schlafend darstellt.

Überall in der Innenstadt sieht man Gebäude aus einer Zeit, in der Manchester schon einmal boomte. Imposant ist die Corn Exchange (Getreidebörse), in ihrer jetzigen äußeren Form 1897/1903 erbaut. 1996 attackierte die IRA (Irisch Republikanische provisorische Armee) Manchesters Innenstadt mit einer 1.500 Kilogramm-Bombe. Zu jener Zeit beherbergte die Börse vornehmlich alternative kleine Läden und Marktstände. Die IRA machte diesen mit ihrem Fanal ein Ende. Seit 2015 dürfte der Ausdruck „Fress-Tempel“ für das Gebäude nicht unangemessen sein. 17 Restaurants reihen sich im Rund aneinander. In der Mitte dieses Runds stehen ebenfalls Esstische (gemeinsam genutzt) – und zwar unter einer beachtlichen Glaskuppel, die den Ausdruck „Tempel“ zusätzlich nahelegt.

Und eine solche Glaskuppel befindet sich in einem zweiten Börsengebäude, nicht weit von der Corn Exchange. Es ist die Royal Exchange (Königliche Börse). Mein Weg führt mich einfach deshalb dorthin, weil Brecht im Royal Exchange Theatre aufgeführt wird. Meine Vorstellung von diesem Theater ging etwa in die folgende Richtung: Was immer dieses Börsengebäude heute ausmachen mag (Läden, Restaurants, Büros), irgendwo würde ich eine Treppe hinunter in den Keller suchen müssen, um ins Theater zu finden. In dieser Vorahnung betrete ich das Gebäude und bin perplex. Wieder ein Rund, über dessen Mitte die Glaskuppel schwebt, unter ihr die Theaterbühne, zu vier Fünfteln rundherum eingefasst durch die Zuschauerränge, von ebenbühnig (= ebenerdig) bis hinauf zum zweiten „Balkon“. Ein Theater wie ein Zirkusrund. Um das eigentliche Theater herum die obligatorischen Gelegenheiten für den kleinen Imbiss vor und nach der Vorstellung wie auch in den Pausen.

Der Marketender-Wagen, den anfangs noch die Söhne „der Courage“ ziehen, ist ein kleiner (ursprünglich) Lieferwagen, aus dem heraus Speiseeis verkauft wird, hier mit einer Aufschrift, die zu Deutsch etwa besagen würde „Speiseeis mit ,Warentest’-Urteil sehr gut“. Dass ein solcher Wagen nicht in den Dreißigjährigen Krieg passt, in dem Brecht das Stück spielen lässt, ist nun bereits klar. Die Soldaten tragen Tarnuniformen, wie sie heutzutage in vielen TV-Nachrichten zu sehen sind – Nationen-unspezifisch. Die kriegführenden Parteien sind die Roten und Blauen (und nicht wie im Originaltext die Schweden und die Kaiserlichen). Die musikalischen Einlagen sind neu komponiert, geben aber – so fand ich – die Brechtsche Intention zeitangepasst gut wieder. An der Handlung selbst findet keine „entstellende“ Änderung statt, ebensowenig wie am Textstrang. (Wort für Wort kann ich’s nicht beurteilen, weil die Schauspieler – sie sind großartig – eine sehr volkstümliche nordenglische, mir nicht immer en detail verständliche Mundart sprechen.)

Brecht als ausgewiesener Dialektiker war ein Propagandist der Idee, dass die Dinge sich fortwährend ändern. (Sein Lied von der Moldau ist ein Beispiel:

„Am Grunde der Moldau wandern die Steine

Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.

Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.

Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne

Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.

Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne

Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.“)

Auf sich selbst bezogen war er wohl weniger veränderungsbereit. Er hat für seine „Mutter Courage“ Regieanweisungen verbindlich für jede, auch künftige, Inszenierung festgelegt. So kam es, dass die beiden Aufführungen, die ich bis dato in Deutschland gesehen hatte, sich kaum voneinander unterschieden. Langweilig. Die Aufführung in Manchester hingegen ignoriert seine Anweisungen und versorgt somit die „Mutter“ mit frischem Blut. Ich glaube sogar, Brecht wäre einsichtig gewesen und zufrieden mit der englischen Art.