Aus dem Ei

schlüpfte nicht das Urmel, sondern der Schlüpfling (The Hatchling).

Kurz nach dem Schlüpfen aus dem Ei: der Hatchling hat sich entfaltet, mitten in der FußgängerInnenzone

Mein Chor, der Mayflower A Cappella Chorus, singt normalerweise Barbershop, doch diejenigen von uns, die es einrichten konnten, probten wochenlang frisch komponierte Musik der Komponistin Ruth Chan. Unser Beitrag bestand vor allem aus uhs, ahs und mhms. Einen Text gab es nicht. Sehr atmosphärisch. Eines Tages wurde unser Beitrag dann professionell aufgenommen, das war spannend, wir sind Amateurinnen und machen das nicht alle Tage.

Eine bekannte Event-Künstlerin hat den Hatchling entwickelt: Ein Kunstprojekt mit den besten PuppenspielerInnen und DrachenfliegerInnen, die das Land zu bieten hat. Ich übertreibe nicht.

Die Idee bestand darin, einen riesigen Drachen in Plymouth aus dem Ei schlüpfen zu lassen, die Stadt zu erkunden, in Kontakt mit den Bewohnenden zu treten, den Kunstbegeisterten und denen, die finden, Museen sind eine Verschwendung von Steuergeldern. Viele Vereine, Kindergruppen und andere Organisationen wurden eingebunden. So wie wir.

Vom Regisseur bis zur Produzentin: wir, die regionalen Sängerinnen, wurden von Anfang bis Ende auf Augenhöhe behandelt, professionell, freundlich, aufmerksam. Dies war ein Projekt für die vielen.

Der Event sollte 2020 stattfinden, nun gut, das hat er nicht, der neue Termin wurde ein Wochenende Mitte August 2021. Zwei Tage zuvor hat ein Einwohner fünf Menschen und dann sich selbst erschossen. Seit 10 Jahren das größte Blutbad Englands, dem weder Terror- noch Bandenkrieg zugrunde lagen (sondern Menschen- besonders Frauenhass). Aus Respekt für die Opfer wurde der Hatchling erneut verschoben. Auf dieses letzte Augustwochenende. Wo wir für unsere Geduld mit blendendem Wetter belohnt wurden.

Ich war in der Innenstadt beim Schlüpfereignis mit dabei und habe mir die Kommentare der Menschen angehört. Sie zielten alle auf eines hin: faszinierend, toll, so etwas Besonderes.

Was Menschen begeistert.

Vor einigen Jahren kamen wir zufällig zur Glockenspielzeit auf den Marienplatz in München. Seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, also warteten wir den Glockenschlag ab. Aber nicht nur wir, TouristInnen aus der ganzen Welt taten es uns gleich und filmten mit ihren Handys alles mit. Dieses alte Spielwerk zieht immer noch!
Virtuelle Welten machen praktisch alles möglich, eine Chirurgin in Singapur kann mir z.B. übers Internet und mit Hilfe von Feinrobotern ein Auge operieren; ich spreche immer und jederzeit mit den entlegendst wohnenden Menschen der Erde; ich kann mich 24 Stunden am Tag unterhalten lassen, mit informieren und desinformieren, alles selbstverständlich.
Doch eine vertrackt aufgebaute Puppe ist immer noch ein Magnet.

Der Hatchling (der immer weiblich gesehen wurde, “sie”) legte sich, von einem anderen Chor mit einem Schlaflied bedacht, später schlafen. Am Sonntag wachte sie auf und war sogar noch gewachsen … Ich radelte auf dem Weg zum Meer am Schlafplatz vorbei und schon um 8 Uhr morgens war das Team damit beschäftigt, Gliedmaßen etc anzupassen.

Die Puppenspielenden waren nie versteckt, die Illusion wurde im Kopf der Zusehenden erzeugt. Auch nicht anders als im Kasperltheater.

Sonntag Abends dann der Höhepunkt: der Hatchling zog aus Plymouth weiter, indem er sich in einen Flugdrachen verwandelte und einer Ballonperle folgend aufs Meer hinausflog. Unsere Ehre war es, der Chor zu sein, der das begleitete. Unsere Stimmen waren mit Musik abgemischt worden, doch wir standen zusätzlich in vorderster Reihe und haben noch einmal live gesungen und das vor Tausenden von Menschen. Vielen sind wir bestimmt nicht aufgefallen, aber wir hatten einen Bombenblick.

Zum Technischen: Flügelspannweite: 20 Meter. Höhe: etwa ein Doppeldeckerbus. Anzahl der Handgriffe / Kommandos, um aus einer maximal beweglichen Puppe einen steifen Flugdrachen zu bauen: über 600.
Die Landpuppe erhielt sogar einen neuen (leichteren) Kopf und neue (größere) Flügel.

Auf diesen Bildern bin ich mit meinen weißen Haaren in der Mitte zu sehen. Die meisten Bilder sind von Mitsängerinnen gemacht.

In Bewegung kann man sich das Ganze auf diesem youtube Film ansehen:

Zu Beginn ein bisschen unserer Musik.

Ins Inland

Salisbury

Der Weg von der Isle of Wight nach Plymouth erfordert einen Umstieg in Salisbury. Grund genug, nach einem Besuch im Jahr 1986 (Interrail!) die Kathedrale erneut zu besuchen und sich eine Übernachtung lang Zeit für diese Stadt zu nehmen.

Salisbury ist bekannt für die Kathedrale mit dem höchsten Kirchturm Englands (123m).

Außenbilder sind nichts geworden, deshalb als Ansicht das Gemälde von John Constable um das Jahr 1825.

Ein besseres Bild von Wikipedia
Das Beste ist, wie so oft, der Kreuzgang. Diese Orte strahlen immer Ruhe aus, ob in Toledo, Bonn, Chester oder Salisbury.

Es ist ein Vergnügen, im Kathedralenviertel herumzuschlendern und an vielen Häusern auf Blauen Schildern zu lesen, wer hier mal gelebt oder gewirkt hat. So war William Golding, der Autor von Herr der Fliegen und Literaturnobelpreisträger (war Schullektüre, harte Geschichte), Lehrer im Ort.

Salisbury scheint es gut zu gehen, es gibt Kneipen und leckere Restaurants ohne Ende und selbst unser kleines “Bahnhofshotel” ist modern und freundlich und der Frühstücksraum (der abends als Bar mit Speisen fungiert, leider Ruhetag) sieht so aus:

Bekannt ist die Stadt für ihre Nähe zu Stonehenge. Stonehenge konnte bereits 1986 nur indirekt besichtigt werden, indem man auf einem Pfad drum herumlief und an die Steine selbst keinesfalls heran kam. Heute soll man noch mehr Distanz haben. Und teuer war es damals schon. Deshalb genießen wir lieber einen Spaziergang durch ein kleines Feuchtgebiet nach Old Sarum, dem alten Salisbury, der bereits in der Steinzeit aufgeschütteten Doppelwallanlage auf einem Hügel 2 km außerhalb der Stadt, auf dem auch die Vorgängerkirche der Kathedrale stand.


Von der alten Kirche ist praktisch nichts übrig. Man kann jedoch erkennen, sie lag ußerhalb des innersten Walls, das die weltliche Festung beherbergte. Vielleicht ein Grund, von einem Randplatz des Geschehens an den Fluss hinunter zu ziehen, um zu einem starken neuen Mittelpunkt zu wachsen. Das ist jedenfalls gelungen.

Salisbury liegt im Inland. Erst dort fiel mir auf, wir haben von den zwei Jahren Plymouth, die ersten an der Küste überhaupt, die letzten eineinhalb Jahre Pandemie bedingt sogar komplett am Meer verbracht. Selbst die beiden kleinen Aufenthalte in Cornwall und auf der Isle of Wight waren “Strandurlaube”. Eine radikale Abkehr vom bisherigen Leben, in dem einem Möwen nicht potentiell die Fritten aus der Hand geklaut haben.

Die königliche Dusche

Isle of Wight 2

Osborne House

Das berühmteste Gebäude auf der Isle of Wight ist Osborne House, die Sommerresidenz Königin Victorias. Im italienischen Stil nach Entwürfen ihres Mannes, Prinz Albert, umgebaut, wurde es von ihrem Sohn und Nachfolger, König Edward, dem englischen Volk geschenkt und kann besichtigt werden.

Wie ein kleiner Campanile lugt der Turm von Osborne Haus durch den großzügigen Park.

z.B. ist zu sehen das Sterbebett von Victoria, des zu ihrer Zeit mächtigsten Menschen der Erde. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie nur formal einer parlamentarischen Monarchie vorstand.
Noch interessanter ist allerdings ihre Dusche:

Die wird nie wieder jemand benutzen, das steht fest, aber an anderer Stelle ist die Zeit (demokratisch) fortgeschritten: über die formal angelegte Terrasse hinaus, durch Wälder geht es hinab an den königlichen Badestrand. Da ich einen Tipp bekommen hatte, dass da irgendwo ein Strand sei, war ich mit Badezeug ausgerüstet und konnte an dem heißen Tag erfrischend ins Wasser tauchen.
Die Badekabine ist auch von Victoria. Aus Gründen der Sittsamkeit ging man in die Kabine und wurde ins seichte Wasser hinausgefahren. Dort konnte man, obwohl ohnehin von Kopf bis Fuß und bis in die Fingerspitzen in ein Badekostüm der Zeit gewandet, ins Wasser gehen, ohne fremden Blicken ausgesetzt zu sein.

Doch zurück ins Haus:

Ein Kronleuchter aus Glas

Ein Kuriosum, hängt etwas versteckt an einer Seitenwand:

1897 hatte Victoria ihr 60-jähriges Thronjubiläum. Zu diesem Anlass hat jemand dieses Art Poster gestaltet, das alle englischen Monarchen mit ihrer Amtszeit zeigt. Je höher und gewaltiger die Säule, desto länger hat jemand regiert. George III hatte auch 60 Jahre auf dem Buckel, das ist die dicke Säule fast rechts. Doch darunter wird festgestellt: nur 59,5 Jahre! Victorias Regierung wird mit einer ein ganzes Stück höheren und mit Blumenschmuck verzierten Säule gefeiert. Die heutige Elisabeth II kann darüber natürlich nur müde lächeln.

Das ist Spitze

Was muss man sonst noch unbedingt auf der Insel gesehen haben? Die Needles (Nadeln). Das sind Felsklippen und die sind so beliebt, dass sich auf dem Weg dorthin ein kilometerlanger Stau bildet, dem auch der regionale Bus nicht entkommt. Das sieht nicht gut aus, lohnt sich die Anfahrt? Am Parkplatz sind jedenfalls Buden aufgebauts, fast wie ein kleiner Freizeitpark. Eine Seilbahn transportiert die Leute nach unten an einen Strand und Bootsanleger, von dem man einen seitlichen Blick auf die Needles erhält. Es gibt auch Treppen, die wir nutzen, all dies ein bisschen viel Rummelplatz.

Und das sind die Needles:

Doch es gibt eine bessere Art, sich den Needles zu nähern: durch ein Naturschutzgebiet zu einem alten Fort an der Spitze des Berges kann man schön gehen, die Massen sind weg und schon hat man den Premiumblick. Das flache Dach auf dem Leuchtturm ist übrigens ein Hubschrauberlandeplatz.

Sonnenuntergänge sind immer schön.

Am Freiheitstag auf Reisen

Isle of wight 1

Am 19. Juli war der versprochene “Freedom Day”, der Tag der Freiheit. Der Tag, den die Regierung Mitte Juni um einen Monat nach hinten verschoben hatte, weil man noch nicht so weit sei mit der Coronaeindämmung. Seit 19. Juli waren und sind theoretisch keinerlei Einschränkungen wegen Corona mehr zu beachten. (Außer man will ins Ausland. Außer man kommt aus dem Ausland.)

Wenn man nun denkt, die Leute hätten Parties gefeiert, dann trifft das auf eine Minderheit sicher zu und natürlich ist es schön, die mündige Bürgerin auch sein zu dürfen, die man ohnehin die ganze Zeit schon war. Die meisten Menschen sind aber unzufrieden, dass die Regeln zu Abstandhalten, Maskentragen und Händewaschen jetzt wischiwaschi sind. Es ist so kaum möglich, sich gegen gefährliche Rüpel zu wehren. Die Verkehrsbetriebe und die Supermärkte waren gar nicht “amused”, dass sie ums Maskentragen jetzt betteln müssen. Je nach Hausrecht natürlich. Viele Räumlichkeiten, z.B. unser Fußballstadium, wo wir in den Rängen als Chor proben dürfen, verlangen weiterhin einen Schnelltest. Der wird nicht nachgeprüft, das geht auf Vertrauensbasis.

Bislang, nach fast zwei Wochen, verhalten sich die meisten Leute sinnvoll und mit Augenmaß. Wir haben alle etwas gelernt in den letzten eineinhalb Jahren, viele Menschen haben auch jemanden an Corona verloren oder kennen Menschen mit Long Covid, oder sind einfach froh, dass es sie bislang nicht erwischt hat und das soll auch so bleiben.

Zufällig war jener Freiheits-Montag unser erster Reisetag mit den Öffis – Zug und Fähre – auf die Isle of Wight. Bei Buchung war Züge nur bis zu einer 50% Auslastung buchbar und mit Reservierungspflicht, es war nicht einfach, überhaupt Fahrkahrten zu bekommen. Würden die Züge nun gleich überfüllt sein? Die Probe aufs Exempel machten wir mit einem ausgefallenen Anschlusszug. Die reguläre nächste Verbindung nach einer Stunde war auch nicht besonders voll und führte nicht zu unguten Reisegefühlen. Masken wurden von fast allen Menschen im Zug getragen, mindestens beim Gehen durch die Gänge. Ein guter Effekt der Masken könnte sein, dass man nicht so leicht Halsschmerzen von Klimaanlage oder offenen Fenstern erhält. Das lohnt sich für die Zukunft im Auge zu behalten!

Die Isle of Wight liegt vor der Südküste im Ärmelkanal gegenüber der Mündung des Test und Itchen, wo sich die Städte Southampton und Portsmouth befinden. Der Wasserstreifen zwischen Insel und Insel (Isle of Wight und Großbritannien) heißt Solent. Wir nehmen eine Schnellfähre in Southampton und gelangen in einer knappen halben Stunde nach Cowes, einem Ort an der Nordküste der Isle of Wight. Mit Blick auf den Solent beziehen wir in einer alten Villa ein Zimmer mit ins Dach gebauter Terrasse.

Die englische Küste verschwindet im Dunst.
Nächtlicher Blick auf Southamptons Ölindustrie

Was wir nicht wussten: Cowes ist in Segelkreisen weltberühmt fürs Segeln. Alle Klassen, alle Ränge, AmateurInnen, Profis. Weltrekorde wurden auf dem Solent schon eingefahren, doch es ist für alle etwas dabei. Etwa 500 m nach rechts am Kiesstrand entlanggehend trifft man auf den Königlichen Jachtclub, bei dem schon Kaiser Wilhelm zu Gast war. Noch heute wird hier mittels einer Kanone der Startschuss für Regatten gegeben. Nicht nur für die großen. Man kann stundenlang zusehen, wie verschiedene Bootsgattungen wie Holzjachten, kleine Katamarane oder halb wie Piratenboote aussehende Teilnehmende von Ost nach West vorbeisegeln. Die Anordnung der Segeldreiecke auf dem Wasser ändert sich im Minutentakt. Die fast schon abstrakten Tableaus werden nicht langweilig.

Kreuzfahrtschiffe legen alle Nase lang aus Southampton ab.
Jachthafen von Cowes. Kleiner Ausschnitt.

Der coolste Job der Welt

Den ich leider verpasst habe: Führerin eines Luftkissenfahrzeugs, eines Hovercrafts. Die gab es, genauso wie die Isle of Wight, in einem meiner Englischbücher zu bestaunen, doch im 20. Jahrhundert, als ich Fähren benutzte, um nach England zu gelangen, war die Alternative Hovercraft zu teuer. (Im 21. Jahrhundert reiste ich per Eurostar, Flugzeug oder der luxuriösen Frankreichfähre.) Also habe ich in Ryde, ein Ferienort im Nordosten der Isle of Wight und gleich gegenüber von Portsmouth, zum ersten Mal ein Hovercraft, was ja ein Amphibienfahrzeug ist, in Aktion gesehen. Und konnte es nicht glauben: das Ding fährt wirklich auf Beton! Und auf Sand! Es kommt an, entleert in Sekundenschnelle das Luftkissen, sackt also in sich zusammen, nimmt Passagiere auf, bläht sich wieder auf und ab geht es wie ein Urgetüm aus der Frühzeit der Ozeane. Absolut beeindruckend. Da mein eigenes Video leider streikt, hier ein link zu einem Fremdvideo von derselben Anlegestelle in Ryde. Viel Spaß!:

Hovercraft