Einige Fakten über: Kent

(Die besseren Bilder sind von Freundin R, die anderen von mir oder aus Wikipedia)

Der Südosten – das ist, wohin London überquillt oder in die Ferien fährt, ein fruchtbarer Landstrich nahe dem Kontinent, das Transitland für alle Hauptstadtgäste.

Erster Eindruck: saubere Züge, saubere Häuser, Obstgehölze in Reih und Glied. Schlammig, denn auch der Südosten bekommt von diesem waschelnassen Winter reichlich ab. Wenn die Bäume blühen, wird es wolkig weiß und rosa werden, noch muss man sich mit Narzissen, Frühlingsknotenblumen und Palmkätzchen begnügen. Ein Käuzchen ruft im angrenzenden Wald, das Café am Bahnhof hat üppige Kuchen und im Ladenteil gibt es nicht nur die Milch für Vergessliche, sondern Delikatessen. Die Menschen sind wohlhabend, hoffentlich werden die Saisonhelfer:innen auch entsprechend ordentlich bezahlt.

Ende Gelände

Der Zug bringt nach Dover. Eine Stadt, die man vom Fährhafen aus kennt, meist bei Nacht, wenn kümmert es, wie es dort aussieht, man will ja weiter, weiter. Die Fähren fahren nicht mehr nach Oostende, aber überall sonst hin. Auch an einem trüben Wintersonntag fährt Fähre nach Fähre das Hafenbecken an. Keine Staus heute, kein Hickhack mit der EU. Der Hafen von Calais liegt nur 33 km entfernt. Bei gutem Wetter kann man nicht nur von diesem Punkt der Küste aus den Kontinent sehen und umgekehrt die berühmten Klippen von Dover. Heute ist das Wetter nicht gut genug.

Hier beginnen die berühmten Weißen Klippen von Dover.

Mord in der Kathedrale

Im Südosten Englands kommt man an Canterbury nicht vorbei, dem Schauplatz eines der berühmtesten Verbrechen des Mittelalters. Heinrich II soll dem Sinn nach gesagt haben: “Wer befreit mich von diesem nervigen Mönch?” Gemeint war Thomas Beckett, ehemaliger Lordkanzler, Freund von Heinrich II und später Erzbischof von Canterbury, der, fromm geworden, andere realpolitische Ansichten vertrat als Heinrich. Wie so oft ging es um Machtansprüche des Staates gegenüber der Kirche und umgekehrt.
Vier Ritter haben Heinrich beim Wort genommen, sind nach Canterbury geritten, ermordeten Thomas IN der Kirche auf üble Weise und machten sich dann dünne. So ganz geheuer war ihnen wohl nicht. Heinrich wollte es nicht so gemeint haben, doch es war zu spät: der Erzbischof war tot und das Volk fing unmittelbar an, Thomas zu verehren, gleich 3 Jahre später wurde er heilig gesprochen, ein Kult setzte ein. Der hält bis heute in gewisser Weise an. Nicht einmal Heinrich VIII, der weder Katholiken noch Heilige mochte und schon gar nicht, dass jemand anders als er Boss-Boss war. Er verbot Thomas und seinen Kult explizit, ließ seinen Namen aus Büchern löschen, konnte seine Verehrung aber nicht ausrotten.
Die vier Ritter wagten sich aus ihren Burgen heraus, reisten nach Rom, um vom Papst von ihrer Schuld befreit zu werden. Es funktionierte: der Papst legte ihnen als Sühne “lediglich” auf, 14 Jahre auf Kreuzzüge zu gehen. Ob einer von ihnen diesen gefährlichen Job überlebte, ist ungewiss.
Das Mittelalter war wirklich ANDERS.

Starker Auftritt: Eingangstor zur Domfreiheit

Canterbury wird von der superben Kathedrale geprägt (Wikipedia).

Canterbury hat eine geologische Besonderheit: der Fluss Stour war zur Römerzeit noch kein Fluss, sondern Wantsum Kanal, der die Insel Thanet vom Rest des Landes trennte. Thanet war bis ins Mittelalter hinein ein sehr wichtiges Handelsgebiet, mit zahlreichen bedeutenden Häfen, die heutzutage Badeorte oder im Inland gelegene kleine Flecken sind. Der Kanal verlandete auf natürliche Weise. Im Laufe weniger Jahrhunderte änderte sich das Gesicht und die Bedeutung ganzer Landschaften.

Tunnelblick

Ramsgate ist die kleinere Schwester von Margate, dem berühmteren Badeort. Seit 10 Jahren hat es jedoch eine wirklich interessante Attraktion, die Schutztunnel. Ende der 30iger Jahre entschloss man sich in Ramsgate, auf Nummer Sicher zu gehen und einen Krieg mit Deutschland zu erwarten. Man war sich darüber im Klaren, dass die Orte auf dem Weg nach London besonders stark bedroht sein würden. Es gab bereits Tunnel, der weiche Kalkstein bietet sich zum Graben an, es gab eine touristische Eisenbahn, die Menschen von der Küste auf die Hochebene und weiter beförderte. Daran wurde angeknüpft und in weniger als einem Jahr wurden 5,2 km Tunnel für die Bevölkerung gegraben. Das ging nur, weil das Gestein sehr weich ist und man pausenlos in zwei 12-Stundenschichten gegraben hat.

Leider stellte sich heraus, die Vorsichtsmaßnahme war eine gute Investition. Ab August 1940 waren die Tunnel pausenlos im Einsatz. Da so viele feindliche Geschwader überflogen, lebten Teile der Bevölkerung praktisch in den Tunneln. Wer ausgebombt war, erhielt einen Bezugsschein für einen Platz im Stockwerkbett, es wurden Mahlzeiten in einer Kantine gekocht, damit niemand mit Feuer hantieren musste, es gab Chemietoiletten und strenge Regeln, um die erzwungene Zeit auf engem Raum gut durchzustehen.
Durch die bogenförmig angelegte Form der Tunnel war oberirdisch niemand mehr als 5 Minuten von einem Eingang entfernt. Diese Eingänge führten jeweils um 2 rechtwinklige Kurven, um Druckwellen unschädlich zu machen, die Tunnel waren tief genug, um Bomben von der Oberfläche wirkungslos verpuffen zu lassen. Wirkungslos nicht an der Oberfläche, viele Menschen verloren ihre Häuser. Doch weit weniger als 100 Menschen starben im Krieg in Ramsgate, niemand in den Tunneln, es war eine einmalig effektive Lebensrettungsmaßnahme.


Ramsgate an einem Wintertag – nach den Tunneln kam die Sonne.