Die Ballade vom alten Seemann

Einen leichten marinen Cocktail aus Gin, Grapefruit- und Zitronensaft aus mit Meersalz geränderten Gläsern trinkend, traf sich die Buchgruppe zum ersten Mal dieses Jahr, mit einem englischen Klassiker. Seit dem Weihnachtsessen, das einem anderen Klassiker, Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde gewidmet war (mit einem Absinth-Aperitiv), war nicht viel Zeit, deshalb lasen wir nur etwas kurzes, wenn auch ein langes seiner Art: ‚Die Ballade vom alten Seemann‘ von Samuel Taylor Coleridge, erste Fassung 1798.

Diese Ballade hat die englische Sprache nachhaltig beeinflusst, Schillers Balladen fallen einem als deutschsprachiges Pendant ein, diese sind aber etwas kürzer. Laut gelesen kommt man bei Seemann auf 30 bis 40 Minuten Lesezeit! Auf youtube kann man verschiedene Fassungen anhören, von Größen wie Richard Burton, Orson Welles oder Ian McKellen (der Shakespeare-Schauspieler, der Gandalf im Herrn der Ringe gibt). Eine gute Gelegenheit, die Originalstimmen dieser Herren zu hören.

Worum geht es?

Ein alter Seebär drängt sich einem Mann auf, der zu einer Hochzeit geladen war und gerade auf dem Weg dahin ist. Er erzählt seine Geschichte, ein unglaubliches Garn: auf einer Reise wird das Schiff ins antarktische Meer abgetrieben, die Aussichten sind nicht gut. Bis jeden Tag ein Albatross auftaucht. Seitdem gibt es gute Winde und flotte Fahrt.

Originalillustration von Gustave Doré: der Albatross macht seinen ersten Besuch.

Eines Tages jedoch, und das Gedicht erklärt nicht warum, erschießt der Seeman den Albatross. Einfach so, aus einer Laune heraus.

Zuerst applaudieren ihm seine Kameraden, doch von Stund an wendet sich das Blatt, es herrscht Flaute. Die Mannschaft verflucht nun den Seemann und zwingt ihn, den toten Albatross (das sind riesige Vögel) um den Hals zu tragen. Die Lage wird immer grimmiger, der berühmte Vers: Water, water, everywhere, nor a drop to drink (Wasser, Wasser, überall, doch kein Tropfen zum Drinken) ist zu lesen. Es erscheint ein Geisterschiff, auf dem der Tod um die Seelen würfelt. Er erhält alle bis auf den Seemann, den ein schlimmeres Schicksal ereilt: er muss mit seiner Tat weiterleben. Er kann nicht beten und nicht sterben, bis er seine Tat annimmt und, eine Art ökologische Frühgeburt, das Meer mit seinen Kreaturen, die er vorher nur als böse und schleimig angesehen hatte, mit neuen Augen sieht.

Der Fluch ist gebrochen, der Albatross fällt von ihm ab und nun helfen ihm die Seelen seiner toten Kameraden, zurück in die Heimat zu kommen. Seitdem erzählt er allen, die es nicht hören wollen, seine Geschichte.

Der Hochzeitsgast ist, gegen seinen Willen, sehr gefesselt von der Erzählung und rechnet damit, am nächsten Tag als weiserer Mann aufzuwachen.

Der Albatross

Albatrosse sind Seevögel mit meterweiter Flügelspanne, wunderschön und in der Realität durchaus nicht nur mit Aberglauben behaftet. Einerseits sollten die Seelen toter Seeleute in ihnen wohnen, andererseits wurden sie im Zweifelsfalle ohne Weiteres verzehrt. Dass es Unglück bringe, einen Albatross zu töten, wird also nicht immer angenommen.

Schwarzbrauenalbatross

Galapagos-Albatrosse
Die Wirkungsgeschichte

Das Gedicht wurde seinerzeit wegen der bereits antiquierten Sprache kritisiert, doch gewann es bleibende Popularität. Es wird viel zitiert und parodiert und ein Albatross um den Hals, da wissen alle, ob sie das Gedicht kennen oder nicht, dass damit Unglück gemeint ist.

Das Gedicht gilt als Geburtsstunde der britischen Romantik.