Über die grüne Grenze

Aus der Reihe Reisen in Großbritannien. Heute: Ein Wochenende in Glasgow.

Wie oft würde man von einem deutschen Schaffner die verwunderte Antwort erhalten: „Aber wir haben doch nur 6 Minuten Verspätung“, wenn man nachfrägt, ob man sich wegen lediglich 10 Minuten Umsteigezeit Sorgen machen muss. Die deutschen SchaffnerInnen sind pessimistischer, was die Akkumulation von Verspätungen betrifft. Unser Schaffner behielt Recht, alles wurde gut, es blieb bei den 6 Minuten und wir sind pünktlich ans Ziel gekommen. Man sage noch einmal, die Britischen seien pessimistisch (okay, normalerweise sind sie es schon).

Nach vier Jahren England endlich einmal nach Schottland. Glasgow ist, mit 600.000 Einwohnenden, dort die zweitgrößte Stadt. Im Großraum leben sogar 2,8 Millionen Leute, ganz schön viele. Und auf dem Weg dahin leben viele viele Schafe.

Wir fahren fast vier Stunden nach Norden, das Licht verändert sich, die Sonne steht tiefer am Himmel und es noch länger hell als in Tattenhall. Dadurch verwirrt sich die Tageszeitorientierung, jedenfalls bei mir: so schräge Strahlen und doch noch hell/noch so früh/so spät?

   

Unser Hotel befindet sich direkt am stilvollen, über 100 Jahre alten Zentralbahnhof. Das Hotel ist einfach, doch mit Jugendstilelementen, preiswert, sauber und mit super Frühstück; die Bahnhofsumgebung ist einfach, ohne Jugendstilelemente, mehr mit Billigläden und Baustellen. Doch der Fluss (Clyde) ist nur 5 Minuten entfernt, und die stolze Innenstadt mit alter Börse, Hauptplatz, Einkaufspassagen (und ja, Jugendstilelementen) auch nur 5 Minuten.

Glasgow war einmal Britanniens zweitwichtigster Wirtschaftsstandort, nach London natürlich. Daher rühren die großen, wir würden sagen, Gründerzeitbauten. Seitdem ist weitergebaut worden, sieht im Mix gar nicht schlecht aus. Es ist deutlich eine Großstadt, unverstellt, schnörkellos, geschäftig.

Die Zierkirschen blühen, der Wind ist frisch, doch wir haben die Tage über 50 % Sonne. Unseren Besuch gehen wir mit der üblichen Mischung aus wenig Vorplanung, etwas Planung vor Ort und viel kümme-losse (Kölsch für Spontaneität) an. Da man eh nicht alles sehen kann, erwandern wir lieber und lassen auf uns zukommen.

Hat sich bewährt und macht nicht so viel Arbeit.


Samstag Morgen geht es in die Vorstadt. Wir statten einem Fernsehstar einen Besuch ab, der unschlagbaren Anita Manning. Als Pionierin ihrer Zunft hat sie sich mit ihrem in den 80ern gegründeten Auktionshaus in der bis dahin Männerdomäne durchgesetzt.

Bekannt ist sie als Expertin in Antiksendungen; dazu berät sie KandidatInnen in der beliebten Serie „Bargain Hunt“, was Schnäppchenjagd bedeutet. In der Sendung haben zwei Zweierteams eine Stunde Zeit, drei Gegenstände auf einem Antikmarkt zu finden. Diese später bei einer Auktion mit Gewinn (oder weniger Verlust als das andere Team, das ist der Regelfall, Gewinne sind selten) zu verkaufen, ist das Ziel des Spiels. Zu diesem Stöbern im Antikmarkt wird ihnen ein Experte oder eine Expertin zur Seite gestellt. Dem zuzusehen macht enormen Spaß und hat einen hohen Bildungswert, denn man erfährt viel über Porzellan, Holz oder Glas und Gegenstände, die mal zu etwas nutze waren, heute jedoch Rätsel aufgeben, wofür sie wohl gut gewesen sind. Weil die Welt sich so gewandelt hat.
Auktionsräume sind meist einfache Lagerhallen, vollgestopft mit Gütern, die billigen Sachen als gemischte Lose in Kartons, die besseren Sachen einzeln in Vitrinen. Vieles kommt sicher aus Haushaltsauflösungen. Die Kundschaft, sofern sie anwesend ist und nicht abwesend bietet, das geht schriftlich, am Internet oder am Telefon, sitzt manchmal sogar auf den Exponaten, die einem also unter dem Hintern weggekauft werden können. So eng kann es gehen. Mannings Haus ist keine Ausnahme, der Raum ist nur etwas netter als der Durchschnitt und hat eine Balkendecke. Anita selbst, man spricht hier Leute einfach mit Vornamen an, ist eine maximal 150m große Glasgowerin mit dem reizenden lokalen Akzent und mit charakteristischem nach außen gedrehtem schwarzen Pagenschnitt. Sie kommt immer besonders gut rüber. Wir sind beide Fans und schauen einfach mal bei einer der wöchentlichen Auktionen rein. Und haben Glück, sie ist nicht auf Reisen, sondern steht selbst hinter dem Pult. Es ist wirklich so vor dem Bildschirm, richtig nett. Leider sind bei den heute angebotenen Gegenständen keine dabei, auf die es sich für uns zu bieten lohnen würde (entweder zu groß oder zu teuer oder hässlich), deshalb sind wir wirklich nur zum Schauen hier und Autogrammjagende sind wir eh nicht. Und Selfi-Jagende schon gar nicht.

Also zurück in die Innenstadt. Wir gehen zu Fuß, dann sieht man noch mehr als mit dem Bus. Meist geht es am Fluß entlang, wir passieren Industriegebiete, neue Hafenwohngebiete (wie in Köln) und sehen uns das große Segelschiff (ein ehemaliges Frachtschiff, in Glasgow gebaut) am Riversidemuseum an.

Das Riversidemuseum. Dahinter sieht man die Mastspitzen des Segelschiffs.

Die Takelage.

Galionsfigur

Hier hat der Kapitän gebadet.

Das Riversidemuseum ist ein Transportmuseum. Da es keinen Eintritt kostet, werfen wir noch einen Blick hinein und kommen so schnell nicht wieder heraus, denn es ist sehr gut gemacht. Nicht nur bietet es Hunderte von originalen Autos, Motorrädern, Trambahnen, Eisenbahnen, Spielzeug und U-Bahnen, sondern auch Straßen, die den Zeiten, in denen die Fuhrwerke fuhrwerkten und die Straßenbahnen fuhren, nachempfunden sind. Es gibt epochentypische Geschäfte und U-Bahn-Eingängen. Besonders interessant ist eine „Fahrt“ in einer Glasgower U-Bahn anno 1940. Man setzt sich in den Originalwagen, in einer und im vorderen Wagenteil läuft ein Film ab, als würde man 1940 mitfahren. Die Leute in dem Film unterhalten sich über das Weltgeschehen (nun, es ist Krieg), die Wirtschaftslage und die Nachbarschaft und bei jeder Haltestelle, bei der die U-Bahn auch real ruckelt, steigen neue Menschen aus und ein und eine neue Unterhaltung beginnt.

Ein Tuk-Tuk oder so etwas haben sie auch.


Noch mehr Antikes: ich kaufe in einem Antikcenter eine einfache Lupe mit Metalleinfassung und Holzgriff, über 100 Jahre alt. Die 10 Pfund, die sie kostet, sind gut angelegt. a) hat eine alte Lupe mehr Charakter als ein neues Vergrößerungsglas mit Plastikgriff und b) wird es höchste Zeit, dass ich strategisch Sehhilfen im Haus plaziere, für das Kleingedruckte und Handarbeiten.


Der Sonntag sieht uns in einer katholischen Kirche eine gute Predigt anhören. Wir sprechen hinterher noch mit den Mönchen, die offenbar die Pfarrei leiten, über ihre Kongregation. Sie heißen Passionisten und sind auch in Deutschland aktiv.
Wir bleiben beim Thema der letzten Fragen und besuchen im Umkreis die anglikanische Kathedrale, den großen Friedhof, der tatsächlich Nekropole genannt wird, und das Museum für religiöse Fragen, wo sich eine komplett vorurteilsfreie Ausstellung mit Engeln in Kunst und populärer Vorstellung beschäftigt.

Die anglikanische Kathedrale ist verhältnismäßig klein (schwieriges Licht für einen Knipser übrigens). Schottland war zur Zeit von Heinrich VIII, Zeit der anglikanischen Abkehr von Rom, unabhängig und entschloss sich erst 1660 mittels einer Verabschiedung im Parlament für kirchliche Unabhängigkeit. Die traditionelle schottische Kirche ist presbyterianisch, also kalvinistisch. Anglikanismus kam erst später von Süden her dazu.

Dies ist wirklich eine TotenSTADT.

Blick über die Stadt der Lebenden.

Deutlich weniger Engel als auf anglikanischen Friedhöfen und diese sind spät und mehr Bewacher als Trauernde. Stattdessen mehr  keltische Knotenmuster.

Auf dem Rückweg noch in die moderne Kunsthalle und in das Leuchthaus, ein Architekturmuseum. Die Museen sind meistens frei zugänglich, das verringert die Hemmschwelle, einzutreten und wenn man etwas für sich findet, bleibt man halt etwas länger. Wenn das kein Programm ist!


Etwas fehlt noch:

Unser Hotel heißt Rennie Macintosh Hotel, und das mit Grund, denn jener ist ein berühmter Sohn der Stadt. Ich sage mal Art Nouveau, Jugendstil, so in der Art. Er hat die Sezessionisten in Wien beeinflusst und einige seiner Gebäude, er war von Haus aus Architekt, stehen in Schottland. Außer Häusern hat er Dutzende von Stühlen entworfen. Vieles ist wie strenger Jugendstil, gerade Linien gemischt mit etwas Floralität, geht schon Richtung Art Deco der 20er und 30er hin. Ziemlich maskulin. Den Montag morgen nutzen wir zu einem Spaziergang zu der einzigen Kirche, die er entworfen hat:

Kirche von Charles Rennie MacIntosh.

Detail in der Sakristeitür und Repliken von einigen seiner Stühle. Stilvoll auf jeden Fall, ob sie bequem sind, ist unbekannt.