Unterwegs in Sachen Kultur

Die Theaterkritik des Tages kommt von Klaus:

Ich hatte mir Theaterkarten gekauft. Bertolt Brecht, „Mutter Courage und ihre Kinder“. Ich hatte das Stück bereits zweimal in Deutschland gesehen, zuletzt sogar beim Brecht-Ensemble in Berlin. Diesmal sollte es in Manchester aufgeführt werden. Vorgestern (11. Februar 2019) war es soweit. Ich fahre mit dem Zug. Der Blick bei der Einfahrt nach Manchester fällt auf eine Masse von Kränen. Aha, hier bau-boomt es. Es boomt auch in der Innenstadt. Die Medien beschwören das Ende der High Street. (Gemeint ist, dass in Großbritannien viele traditionsreiche Innenstadtläden, Kaufhäuser usw. straucheln, teilweise schließen müssen.) Davon ist in Manchester nichts zu sehen, nichts zu spüren. Es pulsiert. Hier ist man nicht arm. Doch halt. Es pulsiert eben an der Armut vorbei. Sie sitzt am Straßenrand, vor sich einen Plastikbecher mit ein paar Münzen drin, später am Tag dann in einen Schlafsack eingerollt, vor einem Schaufenster liegend. Die Stadt hat ihr ein Denkmal gesetzt: eine Skulptur auf dem Bürgersteig einer Straße, die einen Obdachlosen im Schlafsack auf einer Bank schlafend darstellt.

Überall in der Innenstadt sieht man Gebäude aus einer Zeit, in der Manchester schon einmal boomte. Imposant ist die Corn Exchange (Getreidebörse), in ihrer jetzigen äußeren Form 1897/1903 erbaut. 1996 attackierte die IRA (Irisch Republikanische provisorische Armee) Manchesters Innenstadt mit einer 1.500 Kilogramm-Bombe. Zu jener Zeit beherbergte die Börse vornehmlich alternative kleine Läden und Marktstände. Die IRA machte diesen mit ihrem Fanal ein Ende. Seit 2015 dürfte der Ausdruck „Fress-Tempel“ für das Gebäude nicht unangemessen sein. 17 Restaurants reihen sich im Rund aneinander. In der Mitte dieses Runds stehen ebenfalls Esstische (gemeinsam genutzt) – und zwar unter einer beachtlichen Glaskuppel, die den Ausdruck „Tempel“ zusätzlich nahelegt.

Und eine solche Glaskuppel befindet sich in einem zweiten Börsengebäude, nicht weit von der Corn Exchange. Es ist die Royal Exchange (Königliche Börse). Mein Weg führt mich einfach deshalb dorthin, weil Brecht im Royal Exchange Theatre aufgeführt wird. Meine Vorstellung von diesem Theater ging etwa in die folgende Richtung: Was immer dieses Börsengebäude heute ausmachen mag (Läden, Restaurants, Büros), irgendwo würde ich eine Treppe hinunter in den Keller suchen müssen, um ins Theater zu finden. In dieser Vorahnung betrete ich das Gebäude und bin perplex. Wieder ein Rund, über dessen Mitte die Glaskuppel schwebt, unter ihr die Theaterbühne, zu vier Fünfteln rundherum eingefasst durch die Zuschauerränge, von ebenbühnig (= ebenerdig) bis hinauf zum zweiten „Balkon“. Ein Theater wie ein Zirkusrund. Um das eigentliche Theater herum die obligatorischen Gelegenheiten für den kleinen Imbiss vor und nach der Vorstellung wie auch in den Pausen.

Der Marketender-Wagen, den anfangs noch die Söhne „der Courage“ ziehen, ist ein kleiner (ursprünglich) Lieferwagen, aus dem heraus Speiseeis verkauft wird, hier mit einer Aufschrift, die zu Deutsch etwa besagen würde „Speiseeis mit ,Warentest’-Urteil sehr gut“. Dass ein solcher Wagen nicht in den Dreißigjährigen Krieg passt, in dem Brecht das Stück spielen lässt, ist nun bereits klar. Die Soldaten tragen Tarnuniformen, wie sie heutzutage in vielen TV-Nachrichten zu sehen sind – Nationen-unspezifisch. Die kriegführenden Parteien sind die Roten und Blauen (und nicht wie im Originaltext die Schweden und die Kaiserlichen). Die musikalischen Einlagen sind neu komponiert, geben aber – so fand ich – die Brechtsche Intention zeitangepasst gut wieder. An der Handlung selbst findet keine „entstellende“ Änderung statt, ebensowenig wie am Textstrang. (Wort für Wort kann ich’s nicht beurteilen, weil die Schauspieler – sie sind großartig – eine sehr volkstümliche nordenglische, mir nicht immer en detail verständliche Mundart sprechen.)

Brecht als ausgewiesener Dialektiker war ein Propagandist der Idee, dass die Dinge sich fortwährend ändern. (Sein Lied von der Moldau ist ein Beispiel:

„Am Grunde der Moldau wandern die Steine

Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.

Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.

Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne

Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.

Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne

Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.“)

Auf sich selbst bezogen war er wohl weniger veränderungsbereit. Er hat für seine „Mutter Courage“ Regieanweisungen verbindlich für jede, auch künftige, Inszenierung festgelegt. So kam es, dass die beiden Aufführungen, die ich bis dato in Deutschland gesehen hatte, sich kaum voneinander unterschieden. Langweilig. Die Aufführung in Manchester hingegen ignoriert seine Anweisungen und versorgt somit die „Mutter“ mit frischem Blut. Ich glaube sogar, Brecht wäre einsichtig gewesen und zufrieden mit der englischen Art.