Klaus philosphiert:
Bei der Geburt eines Briten (gemeint immer auch die Britin) war ich noch nie anwesend. Ich weiß trotzdem, wie’s zugeht. Den Klapps auf den Hintern, um die Lungenatmung zu aktivieren, beantwortet der Brite nicht mit einem Schrei, sondern mit einem trockenen, anscheinend bereits eingeübten „Sorry!“. Er hat dieses Wort, das ihn sein ganzes Leben begleiten wird, nicht etwa mit der Muttermilch eingesogen – wie denn auch? -, sondern bereits durch die Plazenta. Meint er etwa „Entschuldigen Sie, das ich geboren bin“? Mitnichten. Vielmehr schaut er sich im Kreißsaal um, bemerkt, dass er in ein kinderreiches Land geboren wurde, und schließt messerscharf wie auch korrekt: „Aha, hier geht’s familienfreundlich zu. Ich werde in einer Horde leben, wo es eben unausweichlich ist, dass man sich gegenseitig auf die Füße tritt. Ein ‚Sorry“ kann da nie schaden.“
Der Brite also kommt mit seinem wichtigsten Überlebensinstrument auf die Welt. Es hilft ja auch anderswo, wo es ebenfalls tausendfach benötigt wird. Auf Schritt und Tritt hört oder liest man: „ …, sorry for any inconvenience.“ Wörtlich: „Entschuldigen Sie eventuelle Unannehmlichkeiten.“ Vorangegangen ist die Information, dass ein Gerät, eine Website oder Ähnliches nicht funktioniert oder der Laden, der eigentlich geöffnet sein sollte, geschlossen ist. Es mag ja Völker geben, die sich in solchen Fällen ebenfalls entschuldigen. Doch dort kann man den Eindruck haben, dem Bedauern folge eine Aktivität, die Ursache der Unannehmlichkeit zu beheben. Nicht so der Brite! Ihm dient das „Sorry“ als Fundament seines entspannten Daseins.
Die zweite Perle im Wortschatz des Briten ist – auch bereits im Geburtsvorgang routiniert vorgetragen – der Ausruf „Amazing“. Das heißt soviel wie „(Das ist) erstaunlich, unglaublich“ und wird stets in zustimmender Bedeutung gebraucht. Es ist allerdings noch nicht letztlich geklärt, ob die bewundernde Zustimmung dem gerade wahrgenommenen Objekt gilt oder doch eher dem Ausrufer selbst.
In jüngster Vergangenheit war ich mehrmals Zeuge von Ereignissen, die den Schluss nahelegen, das Zweitgenannte sei zutreffend. Allerdings war es im Falle der „Queen’s Speech“ (= Verlesung der Regierungserklärung der neuen alten Premierministerin May durch die Königin) und der Veranstaltung „Royal Ascot“ (Pferderennen) nur eine Zeugenschaft via TV. Zur Live-Teilnahme an ersterem Ereignis bin ich einfach nicht prominent genug. Für den Eintritt zum zweiten fehlt es mir am nötigen Kleingeld und dem passenden Outfit: Alle Herren mit Zylinder. Und die Damen? Ja, mein Gott, wer schaut denn auf die armen Pferde, wenn jeden weiblichen Kopf eine – na was denn? – erstaunliche Hutkreation ziert? Amazing. Bleibt am Ende nur die Frage, wer in Ascot mehr Geld verdient: ein Siegerpferd (bis zu einer Million Pfund Sterling), die Buch- oder die Hutmacher?
Was nun die Rede der Königin betrifft, ist es zunächst einmal – nein, nicht amazing, sondern: – befremdlich, dass diese arme Frau gezwungen wird, in aller Öffentlichkeit einen Text vorzutragen, dessen Inhalt sie möglicherweise für Blech hält. (Als Kind, auch als diese Dame Bonn besuchte und ich ihr, der damals jung-Schönen, huldigen durfte, schulfrei den Union Jack schwenkend, da hatte ich eine andere Vorstellung vom Königin-sein.) Wahrscheinlich fragte sich niemand der vielen involvierten Zeremonienmeister, was die Königin von Frau Mays Regierungserklärung hält. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, den tiefen Ernst der Angelegenheit zu präsentieren. Man kann ja nicht einfach die Thron-Insignien – etwa die Krone (die die Königin übrigens nicht aufsetzt, sondern lediglich neben sich plazieren lässt) – untern Arm klemmen und damit ins Oberhaus (House of Lords) spazieren, wo die Erklärung verlesen wurde. Man hält sie würdevoll vor sich hin. Dabei geht man nicht. Man schreitet. Doch das Schreiten will nicht so recht gelingen. Es ist nur ein gebremstes, ja gehemmtes, äußerst steifes Sich-vorwärtsbewegen. Es ist unglaublich – aber diesmal im Sinne von „unvorstellbar“ (not amazing, but unimaginable) –, dass ein Lord der Königin die Krone tanzend bringt – wie vor etwa 3000 Jahren König David tanzte, als er die Bundeslade heimbrachte, immerhin mehr als ein königliches Insigne, nämlich ein göttliches. Das war übrigens in Palästina, wo später unter britischem Protektorat gar nicht mehr so lustig getanzt wurde.
Es hat ja etwas Sympathie-heischendes, wenn es den Briten nicht wirklich überzeugend gelingt, den Ernst einer Zeremonie anders als verkrampft darzustellen. Vielleicht ist der Wunsch nach der Entspanntheit des „Sorry for any inconvenience“ selbst bis in höchste Kreise vorgedrungen (offensichtlich ja: „Brexit, klar, zieh’n wir durch, sorry for any inconvenience“). Im Volk jedenfalls ist er unübersehbar. So etwa bei einem weiteren Ereignis, diesmal einem, bei dem ich live zugegen war: dem „Bolesworth International“.
Bolesworth ist das Schloss, das über unserm Dorf Tattenhall thront und von der Familie Barbour bewohnt wird, die wiederum das Land um Tattenhall herum beherrscht. Allein in Form von allgegenwärtigen Fahrzeugen mit der Aufschrift „Bolesworth“ wird der Untertan stetig an die Präsenz des Landeigners erinnert. In einem jedoch unterscheidet sich Bolesworth von Kafkas Schloss: Bolesworth bietet Brot und Spiele für das Volk. Eines dieser Spiele ist eben „Bolesworth International“, ein sich über vier Tage erstreckendes Springreit-Turnier im Schlossareal mit preisreduziertem Zutritt für die unmittelbaren Untertanen, die im Blickfeld des Schlosses leben – also auch für mich.
Auf solcherart Festen wird dann offensichtlich, was der Brite schon vom ersten Moment außerhalb des Mutterleibs weiß: Es wird ein Leben in der Horde. Besonders an Wochenenden sieht man den Auftritt unzähliger Drei-Generationen-Horden. Im Falle „Bolesworth International“ lagerten sie auf ausgebreiteten Decken picknickend rund um die beiden Reitparcours und pflegten dort das entspannte Leben. Das fand überall auf dem Gelände statt: unzählige Attraktionen für Kinder, eine Reptilien-Schau, Wassersport auf dem Schlossgraben und ein paar durch die Luft fliegende Motorräder, um nur einiges zu nennen.
Überall? Nein. Auf zwei Inseln innerhalb des Halligalli war Schluss mit Lustig. Hier sah man Reiter und Pferd in voll angespannter Konzentration bei dem Versuch, Hindernisse erfolgreich zu überspringen. Ich habe es stundenlang genossen, die Kommunikation zwischen Reiter und Pferd zu beobachten. Ganz nebenbei war dies auch das eindrucksvolle (amazing) Erlebnis, dem Briten dabei zuzuschauen, wenn er die Fährnisse des Lebens wirklich ernst nimmt, ohne sich auf sein „Sorry“ zu verlassen: nämlich im Sport.