Bitte zur Impfung

Der NHS

(Hier schreibt Klaus.) In Großbritannien gibt es den NHS, National Health Service oder zu deutsch: Nationaler Gesundheitsdienst. Traditionell hat dieser in (West-)Deutschland einen eher schlechten Ruf. Ich weiß nicht, ob es in diesem Blog war oder ausschließlich in persönlichen Gesprächen, dass ich als in England Lebender oft betonte, der NHS sei besser als sein Ruf. Der NHS funktioniert im Prinzip wie das Gesundheitssystem in sozialistischen Staaten, etwa der DDR. Wahrscheinlich darf man in (West-)Deutschland an nichts ein gutes Haar lassen, was es in der DDR gab – mit Ausnahme solch weltbewegender Errungenschaften wie den grünen Rechtsabbiegepfeil an der Ampel.

Für die einzelne in Großbritannien lebende Person bedeutet das NHS-System Folgendes: Eine Krankenversicherung ist nicht notwendig. Man schreibt sich ein in eine selbst gewählte surgery. Obwohl “surgery” auch mit “chirurgische Operation” übersetzt werden kann, bedeutet es hier: ärztliche Praxis, in der – und zwar ausschließlich – angestellte Fachärztinnen und Fachärzte für Allgemeinmedizin (früher Hausarzt/-ärztin genannt) arbeiten. Bei einem Gesundheitsproblem wendet man sich zuerst an die gewählte surgery. Das entspricht in etwa der in Deutschland unter dem Begriff “Primärarztprinzip” bekannten Routine, zunächst eine/n Hausarzt/-ärztin aufzusuchen und sich gegebenenfalls von dort überweisen zu lassen. Zur fachlichen Weiterbehandlung wird man im NHS ausschließlich an Krankenhäuser überwiesen, weil nur dort Fachärztinnen und Fachärzte arbeiten – und niemals als “Niedergelassene” wie in Deutschland. Die Zahngesundheit mal beiseite gelassen, betrifft die einzig mir bekannte Ausnahme die Augen. Hier wendet man sich zunächst zur Untersuchung an den/die Augenoptiker/in, der/die das Problem löst (etwa meine jährlich obligatorische Netzhautuntersuchung) oder an ein Krankenhaus überweist. In allen Fällen ist die Behandlung kostenlos – abgesehen von einigen Zuzahlungen, etwa zu Medikamenten.

Zu unserer (Barbaras und meiner) surgery ist festzuhalten: Seit Ausbruch der Pandemie ist man dort bestrebt, mit allen verfügbaren und erdenklichen Mitteln durchzusetzen, keinen Menschen, geschweige denn eine Kranke oder einen Kranken auch nur von Ferne zu sehen. (Einmal auf einem Spaziergang in die Nähe dorthin gelangt, wunderte ich mich nur, die surgery nicht mit ausgehobenen Verteidigungsgräben und Selbstschussanlagen gesichert zu sehen.) Zur Ausstellung meines Wiederholungsrezepts wandte ich mich also per Internet (wie sonst?) an diese surgery. Von dort wurde mir (automatisch, per Internet, wie sonst?) bedeutet, ich bekäme das Medikament erst nach der jährlich fälligen Blutuntersuchung. Also bat ich um einen Termin zur Blutabnahme. Wie naiv! Das Ganze endete schließlich nach etlichen frustrierenden Telefonaten und Internet-Kommunikation damit, dass man mich auf das Gelände des ersten Fußballclubs in Plymouth schickte, wo man mir mein Blut abnahm. Das Vereinsgebäude von Plymouth Argyle diente über den ersten Lockdown hinaus erfolgreich als Blutzentrale. Heute spielen sie wieder …

Die Impfung

Betrachtet man die Statistik der Corona-Todesfälle in Europa (ja, Großbritannien gehört zumindest geografisch auch nach Brexit immer noch dazu), scheint die Spitzenreiterrolle Großbritanniens die Kritik am NHS zu rechtfertigen. Als Corona-Todesopfer könnte ich mich dieser Kritik vielleicht anschließen. Als früh Geimpfter halte ich dagegen. (Ja, so ist der Mensch: Er beurteilt schnell ausschließlich ausgehend von den eigenen Erfahrungen (von was ausgehend auch sonst?, fragt der/die Erkenntnistheoretiker/in), was die Britin, der Brite – eine Meinungsäußerung einleitend – oft mit “from my point of view”* ausdrückt.)

* vielleicht am besten übersetzt mit: “von dort aus betrachtet, wo ich mich befinde”.

Zur Sache nun: Dienstag, 16. Februar 2021 erhalte ich eine Textnachricht meiner surgery. Man bietet mir einen Corona-Impftermin drei Tage später an. Ich kann auswählen zwischen drei jeweils zehnminütigen Zeitfenstern. Auswählen und bestätigen soll ich per Internet-Link. Als ich nun diesen Link anklickte, war ich auf alles gefasst, nicht aber auf dies: “Geben Sie Ihr Geburtsdatum ein …” (zur Bestätigung, dass Sie derjenige sind, für den dieser Link bestimmt ist) … “und wählen bitte einen der angebotenen Zeiträume, in dem Sie geimpft werden möchten.” Das war’s! So unkompliziert ging es – soweit ich es mir denken kann -, weil dieser Link allein für mich eingerichtet wurde. Oder anders ausgedrückt: für jede/n der über 60 Millionen Britinnen und Briten jeweils einen individuellen Link. (Natürlich gab es auch die Option, die Impfung abzulehnen, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben oder vorab weitere Informationen einzuholen.) Wenige Sekunden später erhielt ich die Terminbestätigung, zwei Tage darauf eine Termin-Erinnerung.

Am Freitag, 19. Februar, begebe ich mich also zur Impfstation, diesmal nicht die ”Umkleide” einer Fußballmannschaft, sondern in die Halle, in der sonst die Basketballer von Plymouth spielen. Ich bin zehn Minuten zu früh. Einer der vielen, wirklich sehr vielen und sehr freundlichen maskierten Einweiser meint, das sei kein Problem. Ich stehe in einer Schlange, jeweils zwei Meter Abstand nach vorn und nach hinten. Es geht schnell voran. Erste Station: Tisch Nr. 3 gegenüber einer Dame und deren Computer. Wie ich denn heiße. Bekomme einen kleinen Aufkleber mit meinem Namen und werde weitergeschickt zu Impfstation Nr. 3: Spritze rein, zur Sicherheit noch einmal gefragt, wo ich wohne, Aufkleber mit meinem Namen auf den Impf”ausweis” geklebt, und raus bin ich wieder an der frischen Luft. Waren es fünf Minuten … oder sieben? Waren es um mich herum in dieser Zeit fünf, acht … oder zehn Mit-Geimpfte? Auf jeden Fall gab es mindestens vier Helfende pro Impfstation.

Das war’s: Was man vom Bestorganisierten bestenfalls erwarten kann! Das ging wie am Schnürchen und mit der Präzision eines Uhrwerks. Angefangen von der Herstellung, der Beschaffung, der Verteilung bis zur Verabreichung an die “Priorisierten” des Impfstoffs. Mag gestern das Verhalten meiner surgery verstörend gewesen sein. “From” meinem heutigen “point of view” ist es erklärbar. Woher kommen denn all die Ressourcen, so etwas Fantastisches wie dieses Impfprogramm zu initiieren und durchzuführen, wenn nicht mit Hilfe der Leute, die den Normalbetrieb des NHS in normalen Zeiten aufrechterhalten?

Übrigens: Es war der Impfstoff, der mit Hilfe der Universität Oxford entwickelt wurde und heute COVID-19 Vaccine AstraZeneca heißt; es traten keine nennenswerten Nebenwirkungen auf.