Ode an Whitby

Oh, Whitby, du Ferienort, du besuchbarer.
Hier schmeckt das Softeis, hier stehen die Abteiruinen großartig auf den Klippen, hier fanden Kapitän Cooks Lehrjahre statt und finden sich die besten Fish & Chips Buden der Insel – und dadurch der Welt.

England ist schön, das sollte angesichts der lustigen (jetzt wirklich lustig im Sinne von lachen) politischen Lage nicht vergessen werden. Zu Recht besuchen viele Englische England in ihren Ferien (so wie viele Deutsche nach Deutschland fahren). Wir picken uns die schönsten Plätze aus, indem Klaus dort ein Schachturnier besucht und ich als Trittbrettfahrerin die Gegend erkunde. Dieses Mal ist es Whitby, Ostküste, für das wir gerne an dieser Stelle Reklame machen.

Whitby liegt geschützt in einem tiefen Einschnitt in der Mündung des Esk. Vorne die Nordsee, hinten das Moorhochland, das heute ein Nationalpark ist. Links und rechts der Steilküste entlang befinden sich nur kleine Fischerorte, heute Bade- und Segelbuchten. Für die abgelegene Lage war hier immer ganz schön viel los. Seit keltischer Zeit sind Siedlungen und Kirchen belegt, die Abtei von Whitby war eines der theologischen Zentren in der Zeit vor 1000, in einer Reihe wie Iona oder Lindisfarne – das Wissen und Denken des Vormittelalters. In der Abtei von Whitby entschied man sich, Ostern auf die römische Tradition zu legen, nach dem ersten Frühlingsvollmond. Solche Fragen fand man damals enorm wichtig, es wurden aber sicher auch wirklich interessante Fragen bedacht, diskutiert und bebetet.

Blick aus dem Pensionsfenster.

Heute, Fischerei (Whitby ist bekannt für hervorragende Fish & Chips, jede Bude und jedes Restaurant haben Auszeichnungen vorzuweisen) und Tourismus. Für eine Strandhütte verlangen sie 30 Pfund am Tag, die Woche kostet 115. Viel oder wenig, das ist die Frage? Man nennt die Hütten Chalets.

Die Abtei war ein Hort des Wissens. Auch ein Hort der Gleichheit? Die Pfarrkirche St. Mary’s, davor gelegen, wurde ebenfalls im Mittelalter errichtet und zwar weil die Abteikirche (Benediktiner) nicht für das gemeine Volk war. Man sah sich wohl nicht als Seelsorgende, sondern hat einen Frater rausgeschickt in das normale Leben.

 199 Stufen bis zur Abtei. Vor der Ruine St. Mary’s.

Geschleift wurde die Abtei natürlich von Heinrich dem 8., dem vieles anzulasten ist, so auch dieses. Der Legende nach hat er dazu die Glocken beschlagnahmt und per Schiff nach London schaffen wollen, um sie zu „versilbern“, doch das aufnehmende Schiff sank bei spiegelglatter See noch vor Whitby. Manchmal hört man sie unter Wasser tönen. Und die Einheimischen haben sich gefreut.

Die 10 Glocken der Pfarrkirche dagegen sind noch da, ich habe sie am Sonntag mitläuten dürfen.

Nicht unsere Pension bewachen diese silbernen Löwen, machen sich aber gut.

Der traurigste Anblick der Stadt? An der Fenstertheke eines Cafés auf einen Cappuchino wartend, einen Obdachlosen beobachtend. Der bleibt ein paar Meter weiter länger stehen, bis er denkt, niemand guckt, dann bückt er sich und schiebt sich das große Stück Quichekruste, die dort liegt, in den Mund und geht weiter, gierig kauend.

Ein Pirat geht auch vorbei, in der Hand entweder ein kleines schwarze Etwas, entweder ist es ein elektronisches Megaphon oder ein schwarzer Thermosbecher.

Was kann man hier machen? Auf der Steilküste wandern, sogar baden, essen, Eis essen, einkaufen, an Spieleautomaten gehen, Minigolf spielen, auf den kleinen Leuchtturm steigen, eine kleine Bootsfahrt mit einer verkleinerten Replika von Kapitän Cooks Schiff machen (halbe Stunde und mit Bonus: ein Delphin unbekannter Art zeigt sich).

Berühmt ist Whitby für Jet- oder Gagalschmuck, das ist ein glänzender Kohlestein, also festes Erdöl, wenn man so will. Sieht gut aus, ist aber leider teuer. Als Mitbringsel müssen die schönen Erinnerungen genügen.

Whitby unsichtbar in seiner geschützten Flussmündung. Von ferne sieht man nur die Abteiruine als Schattenriss über dem Kliff stehen. Von der Steilküste aus erlauben die Bachläufe  den Zugang zu geschützten Buchten.

Die Möwen sind noch nicht falsch erzogen. Man kann seine Fish & Chips essen, man wird dabei auch beobachtet, doch die Möwen warten auf die Reste, sie greifen nicht ins Menü ein.

Das 40% Segelschiff (heute voll motorisiert) für die Cook-Ausfahrt.

 

 

Antn TV

Nachdem es in Bayern in bestimmten Gegenden das IGEL-TV gibt (Igelfutter in Sichtweite eines Fensters rausstellen und bei Dämmerung auf die Igel warten. Wenn dann ein oder mehrere Igel auftauchen, beobachten groß und klein mit großem Vergnügen die Igel beim Schnaufen = Fauchen und Fressen.), nun auch in Tattenhall echte Tiere im Garten. Es sind Antn.

Sie waren einfach da. Antn, das sind auf Hochdeutsch Enten, Englisch Ducks (daks). Gleicher Name wie ein gewisser Dagobert Duck aus Enten !! hausen. Damals wussten wir nicht einmal, dass Duck (wir sagten natürlich auf deutsche Weise duk) Ente auf Englisch heißt.

Eine Mutter mit 9 Küken (Piwal auf Bayrisch) kam durch irgendeine Lücke, den eigentlich ist der Garten vollständig von Zäunen und Gebäuden eingekreist, es gibt nicht einmal eine Gartentür ins Freie.

Einen ganzen Tag lang führte Mama Ente ihre Schar von einer Ecke des kleinen Gartens in die andere. Und das geht so: die Piwal zerstreuen sich und üben Fressen und Überleben. Alle 10 Minuten ruft die Ente und alle Neune kuscheln sich unter die Mutter, auch die letzten, frechsten, die aberteuerlustigsten, die noch ein paar Sekunden weiter die Welt erkunden. Unter der Mutter ist nichts mehr zu sehen, kein Schwänzchen. Nach einigen Minuten Nickerchen tauchen die Kleinen wieder auf und folgen ins nächste Fressrevier.

Sehr aufregend, allerdings auch: hoffentlich finden sie wieder von alleine hinaus (taten sie). Sie waren nicht scheu und als ich die Garagenseitentür offenließ, sind sie alle hineingewatschelt. Dort konnten sie nicht bleiben. Ich begleitete sie hinaus und wurde für meine Mühe von Mama angefaucht. Sie streckt dazu ihren Hals seitwärts und zischt. Nicht so furchteinflößend wie eine Gans, doch im selben Stil. Zum Dank ließ sie ein Häufchen Entenkacke in der Garage zurück.

In der Nähe gibt es Weiher und einen Bach. Sie haben sicher dorthin gefunden.

Voller Gedanken

Klaus philosphiert:

Bei der Geburt eines Briten (gemeint immer auch die Britin) war ich noch nie anwesend. Ich weiß trotzdem, wie’s zugeht. Den Klapps auf den Hintern, um die Lungenatmung zu aktivieren, beantwortet der Brite nicht mit einem Schrei, sondern mit einem trockenen, anscheinend bereits eingeübten „Sorry!“. Er hat dieses Wort, das ihn sein ganzes Leben begleiten wird, nicht etwa mit der Muttermilch eingesogen – wie denn auch? -, sondern bereits durch die Plazenta. Meint er etwa „Entschuldigen Sie, das ich geboren bin“? Mitnichten. Vielmehr schaut er sich im Kreißsaal um, bemerkt, dass er in ein kinderreiches Land geboren wurde, und schließt messerscharf wie auch korrekt: „Aha, hier geht’s familienfreundlich zu. Ich werde in einer Horde leben, wo es eben unausweichlich ist, dass man sich gegenseitig auf die Füße tritt. Ein ‚Sorry“ kann da nie schaden.“

Der Brite also kommt mit seinem wichtigsten Überlebensinstrument auf die Welt. Es hilft ja auch anderswo, wo es ebenfalls tausendfach benötigt wird. Auf Schritt und Tritt hört oder liest man: „ …, sorry for any inconvenience.“ Wörtlich: „Entschuldigen Sie eventuelle Unannehmlichkeiten.“ Vorangegangen ist die Information, dass ein Gerät, eine Website oder Ähnliches nicht funktioniert oder der Laden, der eigentlich geöffnet sein sollte, geschlossen ist. Es mag ja Völker geben, die sich in solchen Fällen ebenfalls entschuldigen. Doch dort kann man den Eindruck haben, dem Bedauern folge eine Aktivität, die Ursache der Unannehmlichkeit zu beheben. Nicht so der Brite! Ihm dient das „Sorry“ als Fundament seines entspannten Daseins.

Die zweite Perle im Wortschatz des Briten ist – auch bereits im Geburtsvorgang routiniert vorgetragen – der Ausruf „Amazing“. Das heißt soviel wie „(Das ist) erstaunlich, unglaublich“ und wird stets in zustimmender Bedeutung gebraucht. Es ist allerdings noch nicht letztlich geklärt, ob die bewundernde Zustimmung dem gerade wahrgenommenen Objekt gilt oder doch eher dem Ausrufer selbst.

In jüngster Vergangenheit war ich mehrmals Zeuge von Ereignissen, die den Schluss nahelegen, das Zweitgenannte sei zutreffend. Allerdings war es im Falle der „Queen’s Speech“ (= Verlesung der Regierungserklärung der neuen alten Premierministerin May durch die Königin) und der Veranstaltung „Royal Ascot“ (Pferderennen) nur eine Zeugenschaft via TV. Zur Live-Teilnahme an ersterem Ereignis bin ich einfach nicht prominent genug. Für den Eintritt zum zweiten fehlt es mir am nötigen Kleingeld und dem passenden Outfit: Alle Herren mit Zylinder. Und die Damen? Ja, mein Gott, wer schaut denn auf die armen Pferde, wenn jeden weiblichen Kopf eine – na was denn? – erstaunliche Hutkreation ziert? Amazing. Bleibt am Ende nur die Frage, wer in Ascot mehr Geld verdient: ein Siegerpferd (bis zu einer Million Pfund Sterling), die Buch- oder die Hutmacher?

Was nun die Rede der Königin betrifft, ist es zunächst einmal – nein, nicht amazing, sondern: – befremdlich, dass diese arme Frau gezwungen wird, in aller Öffentlichkeit einen Text vorzutragen, dessen Inhalt sie möglicherweise für Blech hält. (Als Kind, auch als diese Dame Bonn besuchte und ich ihr, der damals jung-Schönen, huldigen durfte, schulfrei den Union Jack schwenkend, da hatte ich eine andere Vorstellung vom Königin-sein.) Wahrscheinlich fragte sich niemand der vielen involvierten Zeremonienmeister, was die Königin von Frau Mays Regierungserklärung hält. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, den tiefen Ernst der Angelegenheit zu präsentieren. Man kann ja nicht einfach die Thron-Insignien – etwa die Krone (die die Königin übrigens nicht aufsetzt, sondern lediglich neben sich plazieren lässt) – untern Arm klemmen und damit ins Oberhaus (House of Lords) spazieren, wo die Erklärung verlesen wurde. Man hält sie würdevoll vor sich hin. Dabei geht man nicht. Man schreitet. Doch das Schreiten will nicht so recht gelingen. Es ist nur ein gebremstes, ja gehemmtes, äußerst steifes Sich-vorwärtsbewegen. Es ist unglaublich – aber diesmal im Sinne von „unvorstellbar“ (not amazing, but unimaginable) –, dass ein Lord der Königin die Krone tanzend bringt – wie vor etwa 3000 Jahren König David tanzte, als er die Bundeslade heimbrachte, immerhin mehr als ein königliches Insigne, nämlich ein göttliches. Das war übrigens in Palästina, wo später unter britischem Protektorat gar nicht mehr so lustig getanzt wurde.

Es hat ja etwas Sympathie-heischendes, wenn es den Briten nicht wirklich überzeugend gelingt, den Ernst einer Zeremonie anders als verkrampft darzustellen. Vielleicht ist der Wunsch nach der Entspanntheit des „Sorry for any inconvenience“ selbst bis in höchste Kreise vorgedrungen (offensichtlich ja: „Brexit, klar, zieh’n wir durch, sorry for any inconvenience“). Im Volk jedenfalls ist er unübersehbar. So etwa bei einem weiteren Ereignis, diesmal einem, bei dem ich live zugegen war: dem „Bolesworth International“.

Bolesworth ist das Schloss, das über unserm Dorf Tattenhall thront und von der Familie Barbour bewohnt wird, die wiederum das Land um Tattenhall herum beherrscht. Allein in Form von allgegenwärtigen Fahrzeugen mit der Aufschrift „Bolesworth“ wird der Untertan stetig an die Präsenz des Landeigners erinnert. In einem jedoch unterscheidet sich Bolesworth von Kafkas Schloss: Bolesworth bietet Brot und Spiele für das Volk. Eines dieser Spiele ist eben „Bolesworth International“, ein sich über vier Tage erstreckendes Springreit-Turnier im Schlossareal mit preisreduziertem Zutritt für die unmittelbaren Untertanen, die im Blickfeld des Schlosses leben – also auch für mich.

Auf solcherart Festen wird dann offensichtlich, was der Brite schon vom ersten Moment außerhalb des Mutterleibs weiß: Es wird ein Leben in der Horde. Besonders an Wochenenden sieht man den Auftritt unzähliger Drei-Generationen-Horden. Im Falle „Bolesworth International“ lagerten sie auf ausgebreiteten Decken picknickend rund um die beiden Reitparcours und pflegten dort das entspannte Leben. Das fand überall auf dem Gelände statt: unzählige Attraktionen für Kinder, eine Reptilien-Schau, Wassersport auf dem Schlossgraben und ein paar durch die Luft fliegende Motorräder, um nur einiges zu nennen.

Überall? Nein. Auf zwei Inseln innerhalb des Halligalli war Schluss mit Lustig. Hier sah man Reiter und Pferd in voll angespannter Konzentration bei dem Versuch, Hindernisse erfolgreich zu überspringen. Ich habe es stundenlang genossen, die Kommunikation zwischen Reiter und Pferd zu beobachten. Ganz nebenbei war dies auch das eindrucksvolle (amazing) Erlebnis, dem Briten dabei zuzuschauen, wenn er die Fährnisse des Lebens wirklich ernst nimmt, ohne sich auf sein „Sorry“ zu verlassen: nämlich im Sport.

Ein Pferd steht wieder auf und ein Pfingstfeuer ganz eigener Art

Das Pferd. Freitag vor Pfingsten besuchte ich (Klaus, heute mal wieder Gastautor auf diesem Blog) das Halbfinale eines Poloturniers im Innenraum der Pferderennbahn Chester. Eintritt frei. Es ist faszinierend, wie plötzlich aus einem Pferde/Reiter-Pulk der Ball – sagen wir mal – 50 Meter in Richtung auf eines der beiden Tore geschossen wird. Dann lösen sich zwei Reiter, ein Angreifer und ein Verteidiger aus dem Pulk und rasen dem Ball hinterher, während die übrigen Spieler im Abstand folgen. Es ist natürlich spannend, wer von beiden den Ball zuerst erreicht und ob er ihn mit seinem Schläger gut trifft. Dabei hat es der Angreifer leichter, weil er den Ball in Laufrichtung, also auf das Tor zu, schlägt. Der Verteidiger treibt sein Pferd zwar ebenfalls auf dieses Tor zu, muss aber gegen die Laufrichtung den Ball nach hinten schlagen (oder ins Aus). Diese Duelle anzuschauen macht Freude.

An diesem Tag hatte es in Chester geregnet. Das Geläuf war glitschig. So kam es zum Sturz eines Pferd/Reiter-Paares. Während der Reiter noch lange am Boden liegen blieb, trabte das Pferd schon wieder munter durch die Arena, vom Stadionsprecher mit den Worten kommentiert: „The pony is fine.“ („Das Pferd ist unverletzt.“) Kein Wort zunächst über den am Boden liegenden Reiter. Wundert das? Ist das britische Pferdeliebe? Eine Antwort findet sich bei der Poloregel-Beschreibung auf der deutschen Wikipedia-Seite: „Der Schutz der Pferde ist die oberste Maxime des Regelwerks (… ), und jede mögliche Gefährdung eines Tieres führt zur sofortigen Unterbrechung des Spiels (hingegen geht bei Sturz eines Spielers, wenn es nach Ansicht des Schiedsrichters kein schwerer Sturz war, das Spiel weiter).“ Da also in diesem Fall „das Pony fine“ aus der Sache herausgekommen war und auch der Reiter irgendwann wieder auf seinen Füßen stand, wurde das Spiel zuende gespielt.

In der dann folgenden Pause vor dem zweiten angesetzten Spiel drängte eine Anzahl Zuschauer auf das Geläuf, um – zumeist gestiefelt – die Löcher im Rasen einzuebnen. Die weitaus größere Anzahl – ich will nicht sagen „Zuschauer“, sondern „abwesend Anwesende“ – beteiligte sich allerdings nicht an der Rasenpflege, sondern sprach weiterhin dem Champagner zu.


Das Pfingstfeuer. Am Pfingstsonntag war das Wetter dem Radlfahrer günstig, und so wählte ich für die Fahrt zum römisch-katholischen Gottesdienst in Chester weder Auto noch Motorroller, sondern der Sportlichkeit wegen das Fahrrad. Alles war wunderschön – zumindest solange, bis ich in einen Kreisverkehr einbog, um auf eine Straße durch ein Wohngebiet Richtung Innenstadt zu gelangen. Ich war bereits innerhalb des Kreisverkehrs und hatte also Vorfahrt. Das interessierte eine Gruppe Radrennfahrer, die diesen Kreisverkehr ebenfalls passierten, allerdings die Bohne nicht. Ich überlebte, ziemlich angesäuert. Zu allem Unglück fuhren diese Irren – ihr Herankommen von hinten nahm schier kein Ende – die gleiche Straße wie ich Richtung Innenstadt. Dass sie mir beim Überholen nicht meinen Rückspiegel wegrasiert haben, so dicht fuhren sie an mir vorbei, ist ein Wunder. Ich überlebte, schon mehr als angesäuert, richtig (Entschuldigung:) angepisst.

Aber dann, ja dann, kam die Entschädigung! Als nämlich diese Straße in die Hauptstraße zur Innenstadt überging, war plötzlich ein ganzer Fahrstreifen abgesperrt und für die Radfahrer reserviert. Normalerweise fahre ich dieses letzte Stück zur Kirche auf dem wenig frequentierten Bürgersteig, weil die vier Spuren der Hauptstraße extrem eng sind. Heute allerdings hatte ich eine Spur zwar nicht für mich alleine, war jedoch Auto-verschont. Dieser Genuss fand noch seine Steigerung. Denn am Straßenrand standen Menschen, die mit Kuhglocken bimmelten, mir, ja mir(!), applaudierten und mich anfeuerten. Ich war mir der besonderen Zuschauergunst zweifelsfrei sicher. Denn während alle anderen Radler mit den denkbar scheußlichsten Radfahr-Funktions-Designer-Klamotten auf ihren sündhaft teuren schmalstbereiften Renn-Vehikeln daherbrausten, kam ich mit normaler Straßenbekleidung auf einem schon in die Jahre gekommenen Touren-Rad dahergedümpelt. Das erwärmt auch des eifrigsten Radrennsport-Fans Herz.

Das war mein persönliches Pfingstfest: Angefeuert (Feuer, sic!) zu werden auf dem Weg zum Gottesdienst!

 

Mein erster Quarter-Peal

Für Uneingeweihte mag das nach „mein erster Porsche“ oder „mein schönstes Ferienerlebnis“ klingen, doch regelmäßige Lesende der UKPOST ahnen sicher, es handelt sich wieder um das gute alte Glockenläuten im anglikanischen Stil.

Um besser zu werden und weil es interessant ist, läute ich, wo und so oft ich kann (sie mich lassen;-)). Seit einigen Monaten auch in der Kathedrale von Chester. Da der Turm der Kathedrale selbst nicht gerade baufällig ist, jedoch die beträchtlichen Vibrationen, die die tonnenschweren Glocken beim Läuten erzeugen, nicht mehr verträgt, gibt es außerhalb einen kleinen Turm, in dem die 12 Glocken der Kathedrale hängen. Dieser Turm ist aus den 70er Jahren, wie zu erwarten ist es also kein schöner Bau, sondern ein überdimensioniertes Vogelhäuschen aus Beton. Doch die Glocken sind gut in der Hand- (Seil-) habung. Der Turmkapitän nun, Paul mit Namen, fordert Leute gerne über ihre Grenzen hinaus und so wurde ich, die keine Ahnung von gar nichts hat, aufgefordert, einen Quarter-Peal (einen Viertel Geläut) mitzumachen. Das hat mich wirklich herausgefordert, so weit fühlte ich mich noch nicht in meiner Lernkurve. Doch was hat er eigentlich damit gemeint?

Zur Theorie

Glockenläuten funktioniert so: am Anfang steht die Runde. Also bei 6 Glocken 1, 2, 3, 4, 5, 6, die mit dem höchsten Ton fängt an, die tiefste schließt die Runde und anschließend geht wieder von vorne los. Eine Angelegenheit von ein paar Sekunden. Um Leben in die Sache zu bringen, gibt es „Kompositionen“, nur heißen die beim Läuten „Methoden“. Einzige Regel für die Methoden: eine Glocke kann ihre Position nur um eine Stelle pro Runde verändern, nicht 2 oder 3 Stellen auf einmal. D.h. nach 1,2,3,4,5,6 ist z.B. 1,3,2,5,4,6 möglich, nicht aber sofort 3,1,4,5,2,6. Um Letzteres zu erreichen bedarf es mehrerer Runden. Ist wie mit dem Rubiks Cube Dingens, den löst man auch nicht mit einem Dreh.

Diese Glocken-Methoden können sehr lange werden, wie viele Möglichkeiten es theoretisch gibt, zeigt mathematische Statistik. Denn es gibt keine Wiederholungen!!

Ausschnitt aus einer Läutekammer. Die Glocken befinden sich über der Decke, sind also unsichtbar. Wenn man im selben Raum wie die Glocken läuten würde, wäre man bald taub, das ist viel zu laut. Wie weiß man nun, wo die Mitspielenden mit ihren Glocken gerade sind? Indem man die Sallies beobachtet. Im Bild die gestreiften Puschel, das sind die Sallies, an denen zieht man, um die Glocke zu läuten. Wenn eine Glocke in einer Position vor einem ist, ist die Sally in dem Moment in paar Zentimeter weiter unten, den der/die Spielende hat etwas früher angefangen, daran zu ziehen. Schwierig zu erklären, ergibt aber Sinn.

In diesem Fall

Eine der grundlegenden Methoden, die man mit als erstes lernt, wenn man eine Glocke managen kann, wird mit 5 Glocken geläutet und heißt Bob Doubles. Man muss sich das wie eine Melodie vorstellen. Durch Variationen, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen (wir sind hier im Vergleich entweder bei Bachs Goldberg-Variationen oder im Jazz) kann diese Grundmelodie ins fast Unendliche verlängert werden. Die Variationen werden durch Rufe angekündigt. Das ist nur ein Wort (normalerweise „Bob“). Die Spieler wissen dann, wo sie gerade sind – hoffentlich – und wie sie sich deshalb weiters verhalten müssen.

Wenn man einen ganzen „Peal“ mit 5 Glocken erreichen will, dauert er 5040 Änderungen (in der Reihenfolge, in der die Glocken geläutet werden). Ein Viertel-Peal logischerweise 1260. Das dauert um die 40 Minuten! Also anstatt einer Sinfonie läutet man nur einen Satz einer Sinfonie.

Zwei Besonderheiten in dieser Methode: die Glocke Nr. 6 kann gerne mitläuten, hat aber keine Funktion als die, ständig an letzter Stelle je Runde zu erklingen. Es ist angenehmer, eine 6 dabeizuhaben, man kann sich an dem tiefen Ton ein bisschen orientieren. Sich an allen Tönen der Glocken zu orientieren, also audio, schaffen nur wirklich musikalische Leute.
Zweite Besonderheit und da kam ich ins Spiel: die Glocke Nr. 1 macht weniger komplizierte Dinge als 2,3,4,5. Sie tauscht ihre Stellung in der Runde immer in demselben Muster, egal was die anderen tun. Sie geht von Stelle Nr. 1 zu Nr. 2, zu Nr. 3, 4, 5, bleibt einen Schlag länger an fünfter Position (also „hinten“) und geht dann wieder nach vorne. So dass das Schlagmuster der 1 so aussieht: 1,1,2,3,4,5,5,4,3,2,1,1. Und wieder die 2 und so weiter, über 40 Minuten lang. Das kann man durch Zählen ganz gut hinkriegen. Zusätzlich hilft bei der Orientierung, dass man etwas langsamer läutet, wenn man „nach hinten“ geht, sich also überholen lässt, etwas schneller, wenn man da bleibt, wo man ist (die 1,1 und 5,5) und noch etwas schneller am Seil zieht, wenn man sich in der Reihenfolge wieder nach vorne drängelt.

Weiters hilft, wenn man weiß, welcher anderen Glocke, also 2,3,4 oder 5 man gerade in dem Moment für einen Schlag folgt. Das geht nach Augenschein, siehe Erklärung zur Sally oben, ist aber schwierig, denn hier kommen die Variationen ins Spiel: die Glocken 2-5 verändern ihre Reihenfolge ständig, sonst würde man nicht 1260 VERSCHIEDENE Variationen hinbekommen. Wenn man das ganze „Stück“ in- und auswendig kennt, weiß man, wie man sich verhalten muss. Um beim Bild der Musik zu bleiben, man könnte bei einem Stück sowohl die Geige als auch die Flöte spielen. Wenn man da unsicher ist und eigentlich nur die Triangel spielen kann, so wie ich, ist es hilfreich, wenn alle anderen Mitspielenden einen im Auge behalten und zunicken und zurufen, wenn es droht, unrund zu werden.

Das ist wie Souflieren und das wurde bei mir sehr viel gemacht, damit ich nicht zu nervös werde und einfach reingrätsche. Ich habe es versucht und war erfolgreich. 44 Minuten lang habe ich eine Glocke an der richtigen Stelle erklingen lassen. Ich wusste also, wo ich in der Reihenfolge jeweils war. Oft wusste ich zwar nicht, welcher Glocke ich gerade folgte, mein Gehirn hat diese Informationen nicht immer schnell genug verarbeitet. Wie beim Memory. Man denkt, die Kirschen liegen unter dieser Karte, doch das Kurzzeitgedächtnis trügt, die Kirschen befinden sich unter der Karte davor oder dahinter.

Alles klar? Wahrscheinlich nicht, doch es geht nicht ums Detail. Es geht mir darum, was alles so dahinter steckt, hinter dieser Kunstform. Es ist manchmal einfacher, es einfach zu tun als es zu erklären.

44 Minuten sind eine lange Zeit und wisst ihr was? Diese 44 Minuten waren eine schöne Zeit. Ich hatte dennoch nichts dagegen, als der Ruf erklang: That is all. (Das ist alles)

Über die grüne Grenze

Aus der Reihe Reisen in Großbritannien. Heute: Ein Wochenende in Glasgow.

Wie oft würde man von einem deutschen Schaffner die verwunderte Antwort erhalten: „Aber wir haben doch nur 6 Minuten Verspätung“, wenn man nachfrägt, ob man sich wegen lediglich 10 Minuten Umsteigezeit Sorgen machen muss. Die deutschen SchaffnerInnen sind pessimistischer, was die Akkumulation von Verspätungen betrifft. Unser Schaffner behielt Recht, alles wurde gut, es blieb bei den 6 Minuten und wir sind pünktlich ans Ziel gekommen. Man sage noch einmal, die Britischen seien pessimistisch (okay, normalerweise sind sie es schon).

Nach vier Jahren England endlich einmal nach Schottland. Glasgow ist, mit 600.000 Einwohnenden, dort die zweitgrößte Stadt. Im Großraum leben sogar 2,8 Millionen Leute, ganz schön viele. Und auf dem Weg dahin leben viele viele Schafe.

Wir fahren fast vier Stunden nach Norden, das Licht verändert sich, die Sonne steht tiefer am Himmel und es noch länger hell als in Tattenhall. Dadurch verwirrt sich die Tageszeitorientierung, jedenfalls bei mir: so schräge Strahlen und doch noch hell/noch so früh/so spät?

   

Unser Hotel befindet sich direkt am stilvollen, über 100 Jahre alten Zentralbahnhof. Das Hotel ist einfach, doch mit Jugendstilelementen, preiswert, sauber und mit super Frühstück; die Bahnhofsumgebung ist einfach, ohne Jugendstilelemente, mehr mit Billigläden und Baustellen. Doch der Fluss (Clyde) ist nur 5 Minuten entfernt, und die stolze Innenstadt mit alter Börse, Hauptplatz, Einkaufspassagen (und ja, Jugendstilelementen) auch nur 5 Minuten.

Glasgow war einmal Britanniens zweitwichtigster Wirtschaftsstandort, nach London natürlich. Daher rühren die großen, wir würden sagen, Gründerzeitbauten. Seitdem ist weitergebaut worden, sieht im Mix gar nicht schlecht aus. Es ist deutlich eine Großstadt, unverstellt, schnörkellos, geschäftig.

Die Zierkirschen blühen, der Wind ist frisch, doch wir haben die Tage über 50 % Sonne. Unseren Besuch gehen wir mit der üblichen Mischung aus wenig Vorplanung, etwas Planung vor Ort und viel kümme-losse (Kölsch für Spontaneität) an. Da man eh nicht alles sehen kann, erwandern wir lieber und lassen auf uns zukommen.

Hat sich bewährt und macht nicht so viel Arbeit.


Samstag Morgen geht es in die Vorstadt. Wir statten einem Fernsehstar einen Besuch ab, der unschlagbaren Anita Manning. Als Pionierin ihrer Zunft hat sie sich mit ihrem in den 80ern gegründeten Auktionshaus in der bis dahin Männerdomäne durchgesetzt.

Bekannt ist sie als Expertin in Antiksendungen; dazu berät sie KandidatInnen in der beliebten Serie „Bargain Hunt“, was Schnäppchenjagd bedeutet. In der Sendung haben zwei Zweierteams eine Stunde Zeit, drei Gegenstände auf einem Antikmarkt zu finden. Diese später bei einer Auktion mit Gewinn (oder weniger Verlust als das andere Team, das ist der Regelfall, Gewinne sind selten) zu verkaufen, ist das Ziel des Spiels. Zu diesem Stöbern im Antikmarkt wird ihnen ein Experte oder eine Expertin zur Seite gestellt. Dem zuzusehen macht enormen Spaß und hat einen hohen Bildungswert, denn man erfährt viel über Porzellan, Holz oder Glas und Gegenstände, die mal zu etwas nutze waren, heute jedoch Rätsel aufgeben, wofür sie wohl gut gewesen sind. Weil die Welt sich so gewandelt hat.
Auktionsräume sind meist einfache Lagerhallen, vollgestopft mit Gütern, die billigen Sachen als gemischte Lose in Kartons, die besseren Sachen einzeln in Vitrinen. Vieles kommt sicher aus Haushaltsauflösungen. Die Kundschaft, sofern sie anwesend ist und nicht abwesend bietet, das geht schriftlich, am Internet oder am Telefon, sitzt manchmal sogar auf den Exponaten, die einem also unter dem Hintern weggekauft werden können. So eng kann es gehen. Mannings Haus ist keine Ausnahme, der Raum ist nur etwas netter als der Durchschnitt und hat eine Balkendecke. Anita selbst, man spricht hier Leute einfach mit Vornamen an, ist eine maximal 150m große Glasgowerin mit dem reizenden lokalen Akzent und mit charakteristischem nach außen gedrehtem schwarzen Pagenschnitt. Sie kommt immer besonders gut rüber. Wir sind beide Fans und schauen einfach mal bei einer der wöchentlichen Auktionen rein. Und haben Glück, sie ist nicht auf Reisen, sondern steht selbst hinter dem Pult. Es ist wirklich so vor dem Bildschirm, richtig nett. Leider sind bei den heute angebotenen Gegenständen keine dabei, auf die es sich für uns zu bieten lohnen würde (entweder zu groß oder zu teuer oder hässlich), deshalb sind wir wirklich nur zum Schauen hier und Autogrammjagende sind wir eh nicht. Und Selfi-Jagende schon gar nicht.

Also zurück in die Innenstadt. Wir gehen zu Fuß, dann sieht man noch mehr als mit dem Bus. Meist geht es am Fluß entlang, wir passieren Industriegebiete, neue Hafenwohngebiete (wie in Köln) und sehen uns das große Segelschiff (ein ehemaliges Frachtschiff, in Glasgow gebaut) am Riversidemuseum an.

Das Riversidemuseum. Dahinter sieht man die Mastspitzen des Segelschiffs.

Die Takelage.

Galionsfigur

Hier hat der Kapitän gebadet.

Das Riversidemuseum ist ein Transportmuseum. Da es keinen Eintritt kostet, werfen wir noch einen Blick hinein und kommen so schnell nicht wieder heraus, denn es ist sehr gut gemacht. Nicht nur bietet es Hunderte von originalen Autos, Motorrädern, Trambahnen, Eisenbahnen, Spielzeug und U-Bahnen, sondern auch Straßen, die den Zeiten, in denen die Fuhrwerke fuhrwerkten und die Straßenbahnen fuhren, nachempfunden sind. Es gibt epochentypische Geschäfte und U-Bahn-Eingängen. Besonders interessant ist eine „Fahrt“ in einer Glasgower U-Bahn anno 1940. Man setzt sich in den Originalwagen, in einer und im vorderen Wagenteil läuft ein Film ab, als würde man 1940 mitfahren. Die Leute in dem Film unterhalten sich über das Weltgeschehen (nun, es ist Krieg), die Wirtschaftslage und die Nachbarschaft und bei jeder Haltestelle, bei der die U-Bahn auch real ruckelt, steigen neue Menschen aus und ein und eine neue Unterhaltung beginnt.

Ein Tuk-Tuk oder so etwas haben sie auch.


Noch mehr Antikes: ich kaufe in einem Antikcenter eine einfache Lupe mit Metalleinfassung und Holzgriff, über 100 Jahre alt. Die 10 Pfund, die sie kostet, sind gut angelegt. a) hat eine alte Lupe mehr Charakter als ein neues Vergrößerungsglas mit Plastikgriff und b) wird es höchste Zeit, dass ich strategisch Sehhilfen im Haus plaziere, für das Kleingedruckte und Handarbeiten.


Der Sonntag sieht uns in einer katholischen Kirche eine gute Predigt anhören. Wir sprechen hinterher noch mit den Mönchen, die offenbar die Pfarrei leiten, über ihre Kongregation. Sie heißen Passionisten und sind auch in Deutschland aktiv.
Wir bleiben beim Thema der letzten Fragen und besuchen im Umkreis die anglikanische Kathedrale, den großen Friedhof, der tatsächlich Nekropole genannt wird, und das Museum für religiöse Fragen, wo sich eine komplett vorurteilsfreie Ausstellung mit Engeln in Kunst und populärer Vorstellung beschäftigt.

Die anglikanische Kathedrale ist verhältnismäßig klein (schwieriges Licht für einen Knipser übrigens). Schottland war zur Zeit von Heinrich VIII, Zeit der anglikanischen Abkehr von Rom, unabhängig und entschloss sich erst 1660 mittels einer Verabschiedung im Parlament für kirchliche Unabhängigkeit. Die traditionelle schottische Kirche ist presbyterianisch, also kalvinistisch. Anglikanismus kam erst später von Süden her dazu.

Dies ist wirklich eine TotenSTADT.

Blick über die Stadt der Lebenden.

Deutlich weniger Engel als auf anglikanischen Friedhöfen und diese sind spät und mehr Bewacher als Trauernde. Stattdessen mehr  keltische Knotenmuster.

Auf dem Rückweg noch in die moderne Kunsthalle und in das Leuchthaus, ein Architekturmuseum. Die Museen sind meistens frei zugänglich, das verringert die Hemmschwelle, einzutreten und wenn man etwas für sich findet, bleibt man halt etwas länger. Wenn das kein Programm ist!


Etwas fehlt noch:

Unser Hotel heißt Rennie Macintosh Hotel, und das mit Grund, denn jener ist ein berühmter Sohn der Stadt. Ich sage mal Art Nouveau, Jugendstil, so in der Art. Er hat die Sezessionisten in Wien beeinflusst und einige seiner Gebäude, er war von Haus aus Architekt, stehen in Schottland. Außer Häusern hat er Dutzende von Stühlen entworfen. Vieles ist wie strenger Jugendstil, gerade Linien gemischt mit etwas Floralität, geht schon Richtung Art Deco der 20er und 30er hin. Ziemlich maskulin. Den Montag morgen nutzen wir zu einem Spaziergang zu der einzigen Kirche, die er entworfen hat:

Kirche von Charles Rennie MacIntosh.

Detail in der Sakristeitür und Repliken von einigen seiner Stühle. Stilvoll auf jeden Fall, ob sie bequem sind, ist unbekannt.

 

 

 

Kontinentalverschiebung II

Es ist erstaunlich, wie persönliche Beziehungen, ich habe Familie hier und treffe weitere Familie, das Leben beeinflussen und den Horizont erweitern. Das schöne doch widersprüchliche Ägypten war nicht auf meiner Reisewunschliste und doch bin ich zum dritten Mal hier und freue mich darüber.

In einem Wadi nahe Dahab mit Blick über die Stadt. Mehr als 8000 Einwohnende.

Was gibt es Neues in den zwei Jahren seit meinem letzten Besuch? Die Währung wurde vom Dollar entkoppelt, was gleich zu einer 50-prozentigen Abwertung des ägyptischen Pfundes geführt hat. Oder so. Gut für Reisende, wenn sie sich denn trauen, das Land zu betreten, mit all der Terrorpresse. Mein Flieger war jedenfalls voll. Es gibt viele Wiederholungsreisende und die Preise sind keineswegs um 50 Prozent hochgegangen, es ist also preiswert bis billig. Dazu braucht es bei der Einreise, für den ganzen Südsinai, kein zahlungspflichtiges Visum mehr, man erhält einen Stempel in den Pass (das muss sein, einen Stempel wollen sie einem geben) und spart die 20 brit. Pfund, die es vorher gekostet hat. Mag jetzt wie eine Reklame für Alles-inklusive-Billigreisen klingen, doch so ist es halt. Dafür sind die gelangweilten Flughafenägypter noch gelangweilter bis zum Ranzigsein geworden. Na, sollen sie.

Nach dem angeblichen Abschuss (Beweise wie immer: nö, bringen wir nicht, müsst ihr uns halt glauben) der russischen Maschine vor zwei Jahren haben die Briten (die immer noch nicht direkt fliegen, deshalb fliege ich über Deutschland) am Flughafen Sicherheitsschulungen durchgeführt. Mit dem absurden Ergebnis, dass man auch beim Verlassen des Flughafens sein Gepäck durchleuchten lassen muss. Bisschen spät im Zweifelsfall.

Hinter dieser Schleuse gähnt die leere Empfangshalle. Von ganz ferne habe ich bereits Cousin und Onkel vor der Eingangstür stehen und winken sehen, normalerweise stehen sie an der Ankunftsschranke, jetzt dürfen Abholende nicht mehr das Gebäude betreten. Ich gehe auf sie zu, werde von Mike rufend jedoch dringend ersucht, die Grenze an der Tür nicht zu übertreten, denn dann kann ich nicht zurück. In der Halle befindet sich nämlich der wichtige Duty free Laden und in den gehe ich nun, Mikes mir zugerufene Alk-Bestellung abzuarbeiten.

Und draußen der wunderbare Sonnenschein. Mit dem bewährten beduinischen Fahrer Awad durch die rötlichen Berge nach Dahab. Die Wüste blüht verhalten, im März sind wir am Ende der, na ja, nennen wir es mal eine Regenzeit. Spart die Reise in den Amerikanischen Westen, genau wie dort sieht es hier aus. Am Wochenende gab es Sandsturm von Kairo bis zum Katharinenkloster, hier ist es nur relativ kühl, knapp 20 Grad, doch endlich kein Strumpfhosenwetter mehr. Die üblichen Checkpoints auf der Straße. Ein Stopp, um unzählige Wasserflaschen für die nächsten Tage zu kaufen, die Wüstenluft ist trocken, um viel Trinken kommt man nicht herum. Die Hauptstraße in Dahab, die vor 2 Jahren nur dazu vorbereitet gewesen war, ist nun schön geteert. Dafür ist die Parallelstraße, die man normalerweise zu Fuß in den Ort geht, im Umbruch: aufgerauht und abgefräst, ein Schotterparadies und sieht wirklich nach dritter Welt aus. Wer weiß, wann sie erneut geteert wird. Doch es ist sicher: sie wird geteert werden.

Etwas Meer: farbig, klar und angenehm temperiert.

Zum Wohnen gibt es nur die eine bestmögliche Adresse: das Dahab Paradise, die halbmondförmige Anlage am Ortsrand mit dem kreisrunden Pool in der Mitte. Die Angestellten, der Service wie immer ausgezeichnet, auch wenn er öfters in Anspruch genommen werden muss. Die touristische Krise scheint dazu zu führen, dass man nur repariert, wenn es kaputt geht. Keine meiner beiden Nachtischlampen funktioniert. Bevor ich jedoch tauschen oder nachfragen kann, komme ich am zweiten Tag in mein Zimmer zurück, es ist makellos geputzt, das Bett gemacht. Doch: im Bad ein Scherbenhaufen. Die Steinumrandung des Waschbeckens hat der Schwerkraft nachgegeben.

Unmöglich, dass dies nach dem Putzen geschehen ist, da meine paar Utensilien nicht im Staub liegen, sondern auf der Zimmerkommode. Mhm. Ich schnappe mir die Putzjungs (in Ägypten putzen meist Männer) und frage, was das denn werden solle. Sie sagen mir ganz munter, ja, sie würden gerade mein neues Zimmer für mich fertig machen, ich könne in 10 Minuten einziehen. Ich wechsle also ins Nachbarzimmer (bereits am nächsten Tag wird mein altes Bad renoviert). Da das neue Zimmer am Eck ist, kann ich vom Bett aus nicht mehr den Sonnenaufgang sehen, doch auf der Plusseite ist zu vermelden: eine der Nachtischlampen funktioniert. Na, geht doch.


Das Meer, vom dem das Hotel nur durch eine mager befahrene Straße getrennt ist, ist zum Baden nicht so geeignet, da viele Seeigel, Korallen etc. herumliegen, doch jeder kleine Spaziergang am Kiesstrand zeigt mal ein Einsiederkrebslein, mal Steinblöcke mit Abdrücken von alten Korallen und andere kleine Wunderdinge der Natur.

Gegenüber, am roten Meer, am Ostufer des Golfes von Aquaba, die Saudiarabischen Berge. Manchmal unsichtbar, manchmal glasklar. Sie sind größer als ich sie erinnere und weiter weg als sie aussehen. Man wähnt, einen km rudern würde einen ans Ziel bringen, doch es sind mindestens 5 km. Abends Lichter eines Ortes mit ab- und zuführender Straßenbeleuchtung. Genug Öl zum Strahlen haben sie ja da drüben, aber wer wohnt da? Saudiarabien wirkt entfernt wie der Mond.

An unserem letzten Abend haben die Einheimischen vor dem Hotel mit einem Treibnetz gefischt. Dazu sind Männer in zwei Gruppen getrennt mit Netzen ins Wasser, haben sich weiter draußen in der Mitte getroffen und alle Fische, die sich innerhalb des Netzes befanden, waren die Beute. Alle Fische? Nein, nicht alle, denn eine nicht unerhebliche Anzahl hat gezeigt, dass sie auch fliegen können, wenn es sein muss. Sie sind mit großem Schwung über die Netzkante gesprungen und ins offene rote Meer abgetaucht.


Viel Familienzeit (Klönen, gemeinsam essen, was unternehmen), den Nachwuchs (13 Monate) zu bewundern und die Sonne genießen. Gegrillte Ziege im Wadi, ein Kamelritt und eine Bootsfahrt zum Naturpark Ras Abu Galum (Schnorcheln erlaubt) sind auch noch drin. Und Schwimmen im Pool und Gewürze kaufen. Und lecker Essen vom Frühstück an, über Brezn und Käsekuchen in Ralphs deutscher Bäckerei bis zum internationalen Abendessen im Hotel oder in einem der Restaurants in Dahab. Einige von uns haben sogar zum ersten Mal thailändisch gegessen! Und es hat allen geschmeckt.

Mit der motorisierten Nussschale in den Naturpark. Die Hinfahrt war gegen Wind und Wellen wie ein Betonritt, die Rückfahrt hatte die Rivieraqualität: Sonne und Meer genießen und dabei noch cool ausschauen.

Ein Stilleben am Strand. Alles ist vergänglich.

Die meisten Tage ist der Wind schwach, so ist es nur mit leisem Bedauern, als ich in der Blauen Lagune doch noch Kitesurfer sehe. Dieses Mal, bei 7 Tagen Aufenthalt, ist Kiten nicht geplant.


Irgendwann hat auch eine schöne Woche Ende, ich bin nach Düsseldorf zurück, wieder alleine unterwegs. Am Flughafenbahnhoffahrkartenautomaten (solch ein sinniges Wort machen uns nicht viele Sprachen nach) spricht mich ein Chinese (oder Koreaner) auf Deutsch an. Wo ich hinwolle. Nach Bonn. Ich könne auf seinem 5er Ticket mitfahren, er habe schon einen Frau und einen Mann zusammen (das hat er so gesagt). Er begleitet mich wie eine Glucke auf den Bahnsteig, dort wartet ein peruanisch-deutsches Paar, das gerade aus Peru zurückkommt. Es folgt noch eine Deutsche, die morgens noch in Lappland Langlaufen gewesen ist. Ob der Chinese seine Fahrten so finanziert oder sein Leben, ist natürlich unklar, jedenfalls macht er uns einen guten Preis. Und ist unheimlich nikotinabhängig. Nicht nur raucht er auf dem Bahnsteig, sondern auch nach einem Besuch der Zugtoilette (er hat sich abgemeldet und auch die Fahrkarte bei uns gelassen) dünstet er Qualm wie nach stundenlangen Kneipenbesuch – vor den Rauchverboten – aus. Ein echtes Räuchermännchen.

In Bonn 20 Grad, Museum (Katharina Sieverding Retrospektive, in der die Originalstimme von Berthold Brecht zu hören ist), ein laaanger Weg entlang der Rheinpromenade, ein Muss für jeden Bonnbesuch, gefolgt von einem Capucchino (mittelmäßig) mit belegtem Laugenbrötchen (hervorragend) in der Stadtbäckerei Rott am Münsterplatz. Immer wieder schön.

Cin Cin und schon heute Abend wieder Cheers.

Kontinentalverschiebung I

Ein bisschen absurd, doch sehr 21. Jahrhundert: ich reise nach Deutschland, um alte FreundInnen zu treffen und nach Ägypten, um meine (deutsche) Familie zu treffen.

Doch von Anfang an:

Großbritannien nennt das Festland gerne den Kontinent.

Geologisch gehört die Insel jedoch selbst eindeutig und fest zur europäischen Kontinentalplatte. Vermutlich ist ein Gletscher daran schuld, dass das Land seit langer Zeit durch den Ärmelkanal von Frankreich und Belgien durch Wasser abgetrennt ist. Die geologischen Schichten sind identisch, es gibt halt diese nasse Senke zwischen großem Teil und kleinem Teil.

Das hindert in diesen traurigen Tagen die traurige britische Politik nicht, sich von der europäischen Union trennen zu wollen, da haben andere Interessen die Oberhand gewonnen. Ich reise auf „den Kontinent“ und dann gleich noch auf einen anderen Kontinent und werde überall, von allen Nationalitäten, auf diese Trennung angesprochen. Ich treffe niemanden, auch keine BritInnen, die dafür gewesen wären. Es scheinen sich verschiedene Wahrnehmungswelten über Europa aufgetan zu haben, Nachbarn leben nicht einmal unbedingt auf dem selben Planeten geschweige den Kontinent – in ihren Köpfen.

So ist jede Reise auch ein kleines, klitzekleines Politikum, ein Zeichen gegen Grenzen.


Folgendes gibt es von den Fluggesellschaften zu berichten: auf meiner Reise zuerst nach nach Bonn/ Köln, später von Düsseldorf weiter nach Sharm-el-Sheik und zurück habe ich vier Flieger benutzt, als normale Holzklassenpassagierin, und immer etwas zu essen und trinken bekommen. Die Renaissance des ummö-sonstigen Bordsnacks ist angebrochen oder scheint angebrochen zu sein! Das erweckt ein bisschen nostalgische Gefühle und die langweiligen (langweilig beim Fliegen ist gut, denn es bedeutet Nicht Abgestürzt) Flüge werden aufgelockert.

Auf der Kehrseite der Fliegerei kommt hier der maximale Toptipp: nie mit Rock oder Hose mit Nieten im Bund (wie die Nieten eines Druckknopfwickelrocks, den ich trug) durch die Flughafenkontrolle wollen. Das könnte dauern. In Manchester, ein notorisch sehr gründlicher Filz-Ort, ging es bis zur Abtastung hinter einem Privatvorhang. Alles sehr nett und freundlich und ein Kompliment habe ich von den Damen für meinen Rock auch noch erhalten. Dennoch habe ich für die restlichen Flüge ein komplett metallfreies Kleid getragen. So bestimmt die Sicherheitslage die freie Kleiderwahl. Mein Dank geht an die jahrzehntelange Geschichte des Flugzeugterrors!

Nach drei Jahren wieder Bonn, alles sehr vertraut, aber durch einen feinen Schleier. Zu meinen Besuchen und Besorgungen nutze ich Bus, Auto, Beine und Fahrrad. Ich beginne jeden Weg automatisch, muss dann innehalten: wie ging das noch, wie war der optimale Schleichweg, wie komme ich am günstigsten zu Geschäft A, Adresse B. Mein Körper ist noch richtig programmiert, es klappt.

Wer erkennt’s? In Goldschrift ist zu lesen: Deutscher Bundestag. Es ist das Wasserwerk, flankiert von zwei Wächter-Magnolien. Sternmagnolien sind nicht sehr wehrhafte Bäume, nicht abschreckend, so ein schönes Symbol für einen demokratischen Ort.

Die Stadt steht noch, es wird viel gebaut. Die neue und moderne Bücherei ist gelungen. Das Ungetüm gegenüber dem Hauptbahnhof, dieser Schandfleck, wird abgerissen und zeigt bereits das Hintere seiner Fassaden – noch scheußlicher als die alte Fassade. Man hört jedoch, der Ersatz wird auch nur ein eckiger Konsumtempel werden, das verheißt noch nichts Verheißungsvolles.


Vorschau: zu diesem Licht, diesem Wasser will ich hin. Im Hintergrund die saudischen Berge auf der drübigen Seite des Roten Meeres, Abschnitt Golf von Akaba. Sie wirken oft wie nur einen km entfernt, es dürften aber mindestens fünf sein.


Leider habe ich keine Zeit, der Sprengung des Bonn-Centers von 1969 und die rheinische Antwort zum Europa-Center in Berlin, beizuwohnen. Sie verlief reibungslos, wie dem Internet zu entnehmen ist. Ich befand mich zu dem Zeitpunkt in einem Gottesdienst etwa 4 km entfernt, dort war nichts von dem Knall zu vernehmen und das lag sicher nicht an der Orgelmusik. Der für mich wichtigste Teil des Centers, das Kabarett Pantheon, hat auf der anderen Rheinseite, auf der schäl Sick, ein, wie man hört, schönes Zuhause gefunden. Schade, dass keine Zeit ist, eine Veranstaltung zu besuchen.

Als ich mit dem Flughafenbus zum ersten Mal über den Rhein komme, erschrecke ich: Hochwasser! Keine Spur, eher Niedrigwasser, wie sich zeigt. Ich bin solche enormen Flussbreiten einfach nicht mehr gewöhnt.

Wo ist das Ichiban Nudelrestaurant geblieben? Der Laden in der Rathausgasse steht leer und sieht staubig aus (dem Internet zu entnehmen: nur umgezogen. Uff). Auch das First Flush, das edle Teehaus, in dem wir beschlossen haben, auszuwandern, hat neuen Namen und neue Eigentümer. Das Gehirn schaut und gleicht ab mit dem Gespeicherten und dem, was aktuell zu sehen ist.

Für die berühmte rosa Kirschbaumblüte in der Altstadt ist noch etwas zu früh, immerhin beginnen die weißen Bäume zu blühen:

Ein paar Tage mit vielen Menschen verbringen, eine sehr gute Zeit. Aufgrund einer Trauerfeier im nahen Umkreis auch die richtige Zeit, wieder ein paar Meter Lebens-Wegs gemeinsam zu gehen.

Und da ist noch ein Höhepunkt: mein alter Chor, die Rhubarbs, singen wieder. Just an diesem Wochenende. Schade, dass ich nicht mit auf der Bühne stehen kann. Selbst wenn ich könnte, ich müsste mir die alten Liedtexte wieder draufschaufeln und die neuen Lieder: sind anspruchsvoll. Schön war’s und bald (4.32 ab Hbf Bonn) geht es weiter.

Im Krankenhaus

Countess of Chester Hospital
Weitere Erfahrungen mit dem NHS

(Hier schreibt Klaus.) Am 15. Januar veröffentlichte Barbara in diesem Blog neben konkreter Erfahrung einer Zahnbehandlung einige Bemerkungen zum NHS (National Health Service), dem staatlichen, steuerfinanzierten Gesundheitssystem Großbritanniens (GB). Hat man ein Gesundheitsproblem, geht man in die örtliche Ambulanz (= Praxis), in der angestellte Ärzte und, für bestimmte Verrichtungen, nicht-ärztliche Kräfte arbeiten.

Wenn für GB von fast ausschließlich angestellten Ärzten die Rede ist, so sind diese nicht immer direkt vom NHS angestellt. Es ist auch möglich, dass eine örtliche NHS-Ambulanz wie die Praxis eines deutschen niedergelassenen Arztes als wirtschaftlich unabhängiges Unternehmen von einem Arzt geführt wird, der wiederum weitere Ärzte einstellt. Obwohl wirtschaftlich unabhängig, sind diese Ambulanzen durch Verträge an den NHS gebunden und damit in ihrer medizinischen Freiheit eingeschränkt. Der niedergelassene Arzt in Deutschland ist in seinem ärztlichen Handeln wesentlich freier, weil nur durch Ethos, Gesetz und Ärztekammer gebunden.

Deshalb ist es in Deutschland unmöglich, die freien Ärzte darauf zu verpflichten, entsprechend von Behandlungsrichtlinien zu agieren. (Behandlungsrichtlinien sind wissenschaftlich fundierte, auf Erfahrung beruhende Vorgaben für bestimmte Erkrankungen, wie Diagnostik und Therapie idealerweise zu verlaufen haben.) Dies scheint im britischen NHS-System gänzlich anders zu sein. Dieser Eindruck stellte sich bei mir ein, als ich jüngst mit einem ernsthaften Krankheitsverdacht die örtliche Ambulanz aufsuchte. Da die Tattenhaller Ambulanz wie wahrscheinlich die meisten kaum über Technik verfügt, wurde ich zur Ultraschalluntersuchung in die Krankenhaus-Ambulanz überwiesen, ins Countess of Chester Hospital. Während es also in Deutschland jedem niedergelassenem Arzt freisteht, seine Praxis mit Technik bis hin zu den teuersten Apparaturen wie CT-Scanner auszustatten, scheinen in GB diese Investitionen auf bestimmte Schwerpunkte konzentriert zu sein, was volkswirtschaftlich sicherlich sinnvoller ist (sofern diese Schwerpunkte die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen in der Lage sind).

Im Krankenhaus angekommen, wurde ich nicht etwa einer Ärztin oder einem Arzt vorgestellt, sondern einer für meine Symptomatik zuständigen „Krankenschwester“ (mit – wie sie sagte – neunjähriger Erfahrung auf diesem Gebiet). Nach der Ultraschalluntersuchung besprach diese „Krankenschwester“ das Ergebnis und das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen mit ihrem „Consultant“. Das ist jemand – Arzt oder nicht? – eine Verantwortungsstufe über ihr, die/der den Patienten gar nicht selbst sieht, sondern nur den Bericht erhält. Ihre/seine Anweisung war die Überweisung in eine andere Krankenhaus-Abteilung – immer noch im ambulanten Bereich. Auch hier wiederholte sich das Vorgehen: Untersuchung (diesmal EKG, Röntgen plus CT-Scan), Ergebnisbesprechung mit dem Consultant und anschließende stationäre Einweisung, nach der ich zum erstenmal in diesem Krankenhaus mit einem Arzt in Kontakt kam.

Chester Hospital, Haupteingang, Foto von Ian Cooper

Mein Eindruck ist: Es gibt (für die gängigen Krankheitsbilder?) im NHS klare Behandlungsrichtlinien, die streng befolgt werden – und zwar im Sinne eines Eskalations-Systems. (Eskalation: der jeweiligen Notwendigkeit angepasste allmähliche Steigerung der Mittel).

Je ernster die Diagnostikergebnisse auf den unteren Stufen der Eskalations“leiter“ ausfallen, umso höher gelangt der Patient auf dieser Leiter, bis er schließlich eine Stufe erreicht, auf der die unmittelbare ärztliche Behandlung beginnt. Ich finde dieses System äußerst vertrauenerweckend, weil es den Behandlungsprozess klaren Richtlinien folgend ausrichtet, weil jede und jeder in diesem Prozess genau weiß, was sie/er zu tun hat und wie es zu tun ist, und weil mir endlich dieses Verfahren ressourcensparend zu sein scheint.

Was nun die weitere Verwendung von Ressourcen betrifft, machte ich während meines stationären Aufenthalts Erfahrungen, die sich stark von in Deutschland gemachten abheben. Das Zahlenverhältnis Patienten zu Pflegekräften schien mir deutlich zugunsten der Anzahl von Pflegekräften auszufallen. Die Betreuungs“dichte“ war enorm. Kein Anzeichen von Pflegekräften, die keine Zeit für ihre Patienten haben. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Nächte und die Wochenenden. (Apropos Wochenende: Obwohl kein Notfall mehr, wurde ich ein zweites Mal mit dem CT-Scanner untersucht – und zwar an einem Sonntag.) Die pflegerische Betreuung der Patienten schien mir noch deutlich vom Geiste einer Florence Nightingale beflügelt. Diese Reformatorin der britischen Krankenpflege ist besonders durch ihren Einsatz im Krimkrieg 1853 bis 1856 bekannt. Daran anknüpfend, sei mir als letzte Bemerkung gestattet, dass mich die räumliche Unterbringung im Countess of Chester Hospital eher an ein Militärlazarett erinnerte als an eine Klinik in Deutschland mit ihren abgeschlossenen Ein-, Zwei- oder höchstens Drei-Bett-Zimmern. Die „Zimmer“ mit 6 oder mehr Betten haben alle große Fenster zum Flur, sind also einsichtig. Um die einzelnen Betten kann man bei Bedarf Vorhänge ziehen. Wenn man Krankenhausserien aus den USA oder GB kennt, genauso sieht es aus.

Keine Gefahr also, ein britisches Krankenhaus mit einem Hotel zu verwechseln.

Der Dorfmarkt von Tattenhall

… oder Tattenhall Village Market, wie er jetzt heißt, hat seine Eröffnung gefeiert. Komplett mit Logo:

Unser alter Countrymarket, für den ich immer wieder ein paar Kuchen gebacken hatte, war müde geworden, auf jeden Fall die treibenden Kräfte, sprich Managerinnen in Gestalt zweier erprobter Damen. Die sind nicht alt, aber älter und haben sehr plötzlich Schluss gemacht. Uns anderen Marktfrauen war ihre Kündigung sehr abrupt. Die Countrymarket-Kooperative schwindet zwar seit Jahren mit ihrem Konzept seit Jahren immer mehr, doch gleich aufhören?
Wir haben erst mal durchatmen müssen, und uns anschließend zusammengesetzt, um über neue Konzepte zu sprechen. Und das kam dabei heraus: ein neuer Markt.

Wir helfen weiterhin zusammen und organisieren gemeinsam, doch haben wir individuelle Tische. D.h. wir können eigen dekorieren, haben je eine eigene Kasse und können verpacken wie wir wollen (nach gesetzlichen Regeln selbstverständlich, so weit es Essen betrifft). Dazu haben wir nun eine Tasse Tee oder Kaffee kostenlos im Angebot, die die Leute in der Mitte des Marktes an kleinen Tischen zu sich nehmen können. Wir wollen ein sowohl freundlicher als auch gewinnorientierter Markt sein.

Die Zeit ist immer noch dieselbe: Freitag Vormittag zwischen 9.30 und 11 Uhr. Nicht ideal, denn die Arbeitnehmenden, die das Geld haben, sind dann, eben, arbeiten, doch eine eingeführte Marktzeit in Tattenhall.

Ich bin weiterhin dabei und will es etwas größer versuchen. Da die sich-selbst-pensionierenden Damen alle gebacken haben, habe ich jetzt die Nase vielleicht vorne?

Nachdem die Versicherung sortiert war, das Internet und diverse Läden nach passenden Verpackungen durchstöbert worden waren und ein paar mehr Kuchenformen habe ich auch erworben, stand als erstes im Countdown an: Rezepte anvisieren, auf Bewährtes zurückgreifen und eine Prise Neues. Probebacken! Dann der Großeinkauf, zuerst mal zum Lidl (mit kurzem i gesprochen, so spricht man ihn hier aus).

Drei Tage backen, davon ein Tag Kekse und Brownies, ein Tag Kuchen und Torten, ein Tag Puddings und Brot. Und ein bisschen basteln, das macht den Stand schön bunt und die Ware kann, ohne zu verderben, für das nächste Mal wieder eingepackt werden. Gebackenes kann nur in einigen Fällen (Ingwerkekse) eine Woche später wieder angeboten werden.

Hier ist das Ergebnis:

 

Das erste Mal war ein Erfolg für alle. Wir haben sehr positive Rückmeldungen erhalten und haben uns selbst wohlgefühlt. Bis zum nächsten Freitag im Gemeindehaus also!